Teil 3: Friendship | Carlos Sainz & Charles Leclerc (Bromance)

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Friendship


Bahrain, as-Sachir
29. November 2020



‚Nicht schon wieder...'
Drei Worte, die ihm augenblicklich durch den Kopf schossen, noch bevor er das ganze Ausmaß der Katastrophe überhaupt erfassen konnte. Oder war es längst wieder eine Tragödie, die sich nur wenige Meter von ihren Garagen entfernt abspielte? Er hatte keine Ahnung, denn niemand schien ihnen zur Stunde Genaueres sagen zu können.
Alles, was er in diesem Moment wusste war, dass es ein gewaltiges Feuer gegeben hatte und dass es Romains Haas gewesen war. Er ahnte nichts Gutes und rechnete ganz automatisch mit dem Schlimmsten. Seine Hand griff wie von selbst nach dem Armband, welches er im vergangenen Jahr verloren hatte und das er jetzt nur berühren konnte, weil Carlos es gefunden und ihm zurückgebracht hatte.
Drei Namen waren darauf schon verewigt und er war sich gewiss, dass nach dem heutigen Tage ein vierter hinzukommen würde. Schließlich war Romain damals ein ziemlich guter Freund von Jules gewesen und er wusste, wie schlimm es damals auch für ihn gewesen war. Romain gehörte zu den wenigen, die auch nach einem Jahr noch viel an Jules gedacht hatten, die seiner Familie auch über die ersten Monate hinaus noch zur Seite gestanden hatte.
Bis heute...

Und sofort musste er auch an Sacha denken. An Simon und an Camille.
Er wusste selbst, wie es war, wenn man seinen Vater verlor und die drei waren noch so klein. Ihm wurde das Herz mit jeder Sekunde schwerer, wenn er daran dachte, was sie jetzt durchmachen mussten. Genauso wie Marion. Genau wie seine Mutter, würde sie mit diesem Schmerz zurechtkommen müssen und gleichzeitig für drei Kinder da sein.
Auch, wenn seine Mutter sich stets bemühte hatte, es niemanden spüren zu lassen, war es eine verdammt harte Zeit für sie gewesen.
Wieso das alles? Er konnte und er wollte es nicht begreifen. War denn noch nicht genug geschehen? Er hasste es, wenn ihm solche Gedanken kamen, aber wieso musste das immer in seinem Umfeld passieren? Wieso waren es immer seine Freunde oder Menschen, die er wirklich gernhatte?
Und wie sollte er damit wieder umgehen? Das war eine Sache, in der er niemals Routine bekommen wollte. Irgendwie hatte er inzwischen Angst, dass genau das passieren würde, dass er sich daran gewöhnte und irgendwann gar nicht mehr auf den Tod eines nahestehenden Menschen reagierte, weil es zu einem Teil seines Lebens geworden war.

Das Problem war nur, dass hier so viele Kameras waren, dass er sich Emotionen in diesem Augenblick schlicht und ergreifend nicht erlauben konnte. Er hasste das. Wie lange würden sie das Rennen wohl unterbrechen? Was würde er in der Zwischenzeit erfahren?
Er musste sich dringend beruhigen, denn wenn er eins nicht gebrauchen konnte, dann, dass ihm irgendjemand anmerkte, dass es ihm nicht gut ging, dabei wusste es vermutlich ohnehin jeder. Konnte er denn gar nichts machen, um zumindest das Kreisen seiner Gedanken für einen Moment aufzuhalten?
Ihm wurde schlecht, wenn er an das Feuer dachte und versuchte sich einzureden, dass es vielleicht auch nur schlimmer ausgesehen hatte, als es am Ende war. Doch der rationale Teil in ihm wusste, dass es Schwachsinn war. Er hatte es im Rückspiegel doch gesehen. Sowas überlebte man einfach nicht und sie bekamen auch keine Bilder von der Unfallstelle gezeigt.
Es war wie damals bei Jules. Zumindest fühlte es sich gerade so an. Und auch an Anthoine musste er wieder denken. Wieso das alles? Nein, mit diesen Fragen durfte er sich jetzt gar nicht beschäftigen. Das würde ihn nur noch mehr durchdrehen lassen.
Aber der Verstand sendete ihm immer wieder die schrecklichsten Bilder und sorgten dafür, dass er sich immer wieder vorstellen musste, was an der Unfallstelle wohl gerade los war. Das war nichts, was er in seinen Kopf lassen wollte, doch aufhalten konnte er es nicht.

Es kam ihm vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen, bis sie doch endlich die ersten Bilder gezeigt bekamen und er sehen konnte, dass Romain es anscheinend doch irgendwie aus dem Feuer geschafft hatte. Die plötzliche Erleichterung verschlimmerte das Gefühl der Übelkeit, obwohl es eine positive Nachricht war, mit der er gar nicht mehr gerechnet hatte.
Er musste dringend aus dem Cockpit und irgendwohin, wo ihn niemand finden konnte, sonst gab's gleich ein Unglück. Er reagierte nicht auf die Fragen seiner Crew, als er in Rekordgeschwindigkeit aus dem Wagen sprang und nach hinten verschwand. Er wollte das keinem erklären müssen. Schon gar nicht Vettel, dessen Blick er gerade genau auf sich spüren konnte. Was der wohl wieder von ihm dachte? Aber das konnte und musste ihm egal sein.
Wieso schoss ihm überhaupt so viel Blödsinn durch den Kopf? So viel Input konnte sein verstand unmöglich verarbeiten. Er hatte keine Ahnung, wie weit er gekommen war, als er es nicht länger unterdrücken konnte, sich an irgendeiner Wand abstütze und sich schließlich übergeben musste. Das war so dermaßen peinlich und blöd!
Er hoffte wirklich, dass ihm niemand gefolgt war und keiner das hier mitbekam. Schon gar keine Medien, aber geistesgegenwärtig hatte er noch darauf geachtet, sich in einen Bereich zu begeben, wo die gar nicht zugelassen waren und davon ab konzentrierte sich gerade hoffentlich eh alles nur darauf, was mit Romain war und nicht auf ihn.

Als sich sein Magen wieder einigermaßen beruhigt hatte, richtete er sich wieder auf und sah sich um. Er stand irgendwo hinter den Garagen und in der Tat war hier nicht sonderlich viel los. Keiner bemerkte ihn und das war ihm auch nur recht so. Vielleicht sollte er lieber schleunigst zum Team zurückkehren, bevor sich das änderte und die wildgewordene Presse sich doch noch einfallen ließ, ihn wieder mit emotionalen Geschichten unter Druck zu setzen.
Eine Minute wollte er sich aber noch gönnen. Seine Atmung wieder regulieren und sich wieder fokussieren, um nicht annähernd so kopflos rüberzukommen, wie er sich in diesem Augenblick fühlte. Er ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen, vergrub das Gesicht kurz in den Händen und mahnte sich dazu, wieder klarzukommen. Romain war ausgestiegen, es ging ihm gut. Sie würden ihn umgehend ins Medical-Center oder direkt ins Krankenhaus bringen. Er würde ihn nach dem Rennen vielleicht besuchen können. Es war alles in Ordnung.
Das musste er sich einfach immer wieder sagen, sonst würde er gleich sicherlich durchdrehen. Zumindest bemerkte er nach kurzer Zeit, dass sein innerer Monolog Wirkung zeigte. Er konnte wieder etwas ruhiger atmen und sein Herz schien seinen Brustkorb auch nicht mehr sprengen zu wollen. Sehr gut. Dann konnte er sich ja endlich wieder zusammenreißen und zum Team zurückkehren und ihnen irgendeine dämliche Ausrede für sein Verhalten präsentieren, die ihm vermutlich sowieso keiner glauben würde, aber die vermutlich von ihm erwartet wurde.

„Hey, alles klar bei dir?", sprach ihn allerdings jemand aus heiterem Himmel an und er hätte den Blick gar nicht heben müssen um zu wissen, mit wem er es zu tun hatte.
Es war Carlos. Seit der letzten Tragödie in seinem Leben, waren sie sowas wie Freunde geworden. Der Spanier war nun einer der wenigen Menschen hier, die ein paar Dinge mehr über ihn wussten und jemand, dem er vermutlich mehr vertraute, als den meisten seiner Kollegen. Vor ihm brauchte er die Fassade natürlich nicht aufrechterhalten, aber wenn man erst damit anfing, sie ab und zu abzulegen, dachte man irgendwann nicht mehr daran, sie hochzuziehen, wenn man es unbedingt musste.
„Ja, alles okay", teilte er seinem zukünftigen Teamkollegen also mit und versuchte sich an einem beschwichtigenden Lächeln. Vermutlich verfehlte das seine Wirkung aber vollkommen, denn Carlos sah alles andere als überzeugt aus.
„Wirklich? Du siehst echt nicht gut aus", kam auch prompt die Feststellung des Offensichtlichen. Warum versuchte er das auch? Aber andererseits war es eben nicht seine Art, anderen sofort mitzuteilen, wenn er eigentlich am liebsten austicken würde.

Er seufzte leise, versuchte sich weiterhin darauf zu konzentrieren, keine Panik zu bekommen. Es war alles gut. Es konnte nichts Schlimmes mehr passieren. Es würde hier und heute keine weitere Rennfahrer-Witwe und drei Halbwaisen geben. Er musste diese Schreckensszenarien wieder aus dem Kopf bekommen.
„Naja... Der Unfall sah ganz schön übel aus oder nicht?", stellte er also mal eine Begründung in den Raum, weshalb er nicht so entspannt wirken mochte, wie sonst. Hätte er doch nur keinen Blick in den verdammten Rückspiegel geworfen. Manchmal war es anscheinend besser, die Scheuklappen aufzulassen, nur wer könnte das in so einem Moment? Trotzdem wünschte er, dass er das nicht gesehen hätte.
„Mehr als übel würde ich sagen", stimmte Carlos seinen Worten also direkt zu. Was sollte man dazu auch sonst sagen? „Ein Wunder, dass er es geschafft hat, da lebend rauszukommen." In der Tat und er wollte gar nicht daran denken, wie es nun aussehen würde, wenn es dieses Wunder nicht gegeben hätte.
Nein, besser, er ließ seine Gedanken nicht mehr darum kreisen. Er sollte sie schleunigst dazu bringen, damit aufzuhören. Aber das, was hier und heute mal wieder in ihrem Sport passiert war, hinterließ seine Spuren. Er musste daran denken, wie man in den letzten Jahren immer versucht hatte, die Formel 1 sicherer zu machen, damit sich eine Tragödie, wie die in Suzuka 2014 nicht wiederholte. Zwar wusste er noch nicht viel über den Unfallhergang, aber er rechnete fest damit, dass die letzten Verbesserungen ihren Teil dazu beigetragen hatten, dass Romain es irgendwie geschafft hatte.
Ein guter Gedanke, denn dann wäre Jules Tod nicht so unerträglich sinnlos gewesen. Und solche Dinge konnte man nicht ertragen, wenn sie komplett sinnlos waren.

„Weißt du... Ich dachte bis eben, dass es ihn jetzt auch erwischt hat. Wieder einen guten Freund...", offenbarte er Carlos also in diesem Moment. Er sprach nicht gerne darüber, aber er wusste, dass der Spanier ihn verstehen konnte. Sie hatten nach Anthoines Tod noch oft gesprochen und er schätzte, was der Ältere für ihn getan hatte.
„Wie bei Jules?", fragte Carlos leise und er nickte sofort.
„Ja. Und wie bei Anthoine." Manchmal konnte er nicht fassen, dass in all den Jahren, in denen er aufgewachsen war, nie so etwas geschehen war. Der letzte, tödliche Unfall eines Formel-1-Fahrers, hatte sich drei Jahre vor seiner Geburt ereignet. Für ihn waren diese ganzen Horror-Crash nichts weiter, als eine dunkle Geschichte über die alten Zeiten gewesen. Er hatte das nur aus Dokumentationen und Rückblicken gekannt, aber nicht aus dem realen Leben.
Und kaum, dass er selbst langsam alt genug wurde, dass seine Ziele konkreter wurden und diese in greifbare Nähe rückten, kam es Schlag auf Schlag, nahm ihm zwei gute Freunde, nur um die Welt daran zu erinnern, dass es Sicherheit im Motorsport niemals geben würde. Das war nicht nur ungerecht, sondern auch ein verdammt blöder Scherz des Lebens.

„Fällt dir das nicht schwer? Ich meine... Immer wieder einzusteigen, obwohl du schon so viel durch diesen Sport verloren hast...", fuhr Carlos fort, dem wohl nicht entgangen war, dass er einen Moment in seine eigenen Gedanken versunken war.
Worte, über die er kurz nachdachte. Allerdings war es gar nicht so kompliziert, darauf eine Antwort zu geben. „Ja, das sollte man wohl meinen, aber... Ich glaube keiner von ihnen wäre mit meinem Rücktritt einverstanden." Zumindest hatte dieser Gedanke ihm immer sehr geholfen, wenn es um die Frage ging, ob er überhaupt weitermachen sollte. Er konnte sie doch nicht einfach enttäuschen!
„Mag sein. Aber wie sieht es in dir aus?", wollte Carlos wissen. Womöglich hätte er tatsächlich hin und wieder mal in sich selbst reinhören sollen, sich hinterfragen, nur fürchtete er, welche Entscheidungen er dann treffen könnte.
Die Leute sagten immer, dass es nicht gut war, Dinge nur wegzuschieben, die einem nicht gefielen oder schwierig waren. Denn damit waren sie nicht gelöst, sondern immer noch da. Trotzdem konnte er sich dazu nicht überwinden, also schüttelte er den Kopf. „Daran will ich ehrlich gesagt nicht denken.

„Also verdrängst du das", schloss Carlos aus seiner Antwort. War es so? Vermutlich. Dennoch glaubte er fest daran, dass das an solchen Tagen der bessere Weg war, statt sich Sorgen zu machen, sich in das Geschehene hineinzusteigern und am Ende nie wieder in einen Rennwagen steigen zu können, weil die Angst einen auffraß.
„Ja... Vielleicht..." Es würde ihm nicht wirklich weiterhelfen, das alles abzustreiten. Er wusste auch, dass Carlos niemand war, der einen jetzt unbedingt von dem moralisch besten Weg überzeugen musste. Wenn er nachfragte, wollte er einen lediglich verstehen und er glaubte, dass der Spanier das auch konnte.
„Wieso?"
„Weil das genau die Arten von Geschichten sind, die alle hören wollen. Wie schwer mir das fällt. Wie hart das alles für mich ist. Glaub mir, nicht wenige haben Jules, Anthoine oder sogar meinen Vater schon erwähnt, weil sie sich eine interessante Reaktion davon erhofft haben, über die sie dann schreiben können."

Pures Entsetzen breitete sich auf Carlos' Zügen aus, als er das hörte.
„Was?! Das ist widerlich!", entfuhr es ihm sofort. Klar, auch der Ältere war mit dem Medienrummel schon lange vertraut. Er war so aufgewachsen. Sein Vater war schließlich mehrfacher Rallye-Meister, da hatte er als Kind schon erfahren müssen, wie groß das Interesse der Medien sein konnte, aber nicht jeder musste damit schon in jungen Jahren so miese Erfahrungen machen, wie er selbst.
„Aber so funktionieren die Medien leider", zuckte er also mit den Schultern. Er hatte diese Lektion sehr früh gelernt und war daher immer äußerst vorsichtig damit, was er anderen so von sich erzählte, denn er wollte gewisse Dinge nicht am nächsten Tag in der Zeitung oder im Internet lesen.
„Vermutlich. Trotzdem find ich das scheiße. Meinst du denn, dass es gut ist, wenn du mit solchen Gedanken im Kopf weiterfährst?", zeigte Carlos sich besorgt und er schätzte das auch. Das zeichnete einen guten Freund aus, dass er sich Gedanken machte und einen schützen wollte, aber in dieser Sache war er sich wirklich vollkommen sicher.

„Das muss ich sogar. Wenn ich das nicht mache, zweifle ich vor jedem Rennen und noch dazu wäre ich ein gefundenes Fressen für die Presse", erklärte er also. Diese Branche hier war hart. Härter, als er als Kind noch angenommen hatte. Aber es war nun einmal sein Traum gewesen und für das, was man liebte, musste man manchmal auch Opfer bringen.
„Sicher. Aber packst du das auch?" Eine gute Frage. Ganz sicher konnte er das vielleicht nicht sagen, doch er hatte es fest vor und wenn er nicht entschlossen blieb, was das anging, dann hatte er bereits verloren. Daher konnte es auch nur eine Antwort für ihn geben.
„Das werde ich." Denn daran glaubte er.
Carlos hob kaum merklich eine Augenbraue, dachte kurz nach und lachte dann leise, während er ungläubig den Kopf schüttelte.
„Wo nimmst du nur diese Stärke her?", wollte der Ältere wissen, aber darauf gab es ja auch eine ganz simple Antwort.
„Na, hiervon." Er hob den Arm, an dem das Abend befestigt war, welches Carlos ihm letztes Jahr wiedergebracht hatte. Bis heute wollte er nicht darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn er es nicht wiederbekommen hätte. Es bedeutete ihm nach wie vor so verdammt viel, dass der Spanier es gefunden und ihm zurückgebracht hatte. „Also siehst du, was du für mich damals getan hast, ist viel größer, als du bisher dachtest."

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