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Can We Save Our Life-Game | Carlos Sainz jr. x Lando Norris

Can We Save Our Life-Game?

Le Castellet, Frankreich
20. Juni 2019

Endlich konnte er sich ein bisschen zurückziehen. Ungestört seinen Gedanken nachgehen...
Wäre es nicht besser, wenn er das Risiko einfach eingehen würde? Es war schließlich nicht so, dass er völlig chancenlos war. Zumindest ging er davon aus, nachdem er all die Anzeichen gegeneinander abgewogen hatte, die dafür oder dagegen sprachen. Noch dazu schätzte er seinen Teamkollegen sehr offen und vorurteilslos ein. Selbst, wenn er nicht dasselbe fühlte, würde das vielleicht nicht sofort ihre Freundschaft zerstören.
Eine Freundschaft, die noch gar nicht so lange bestand. Erst seit wenigen Monaten, doch sie hatten sich auf Anhieb so gut verstanden und am Anfang hatte er noch gar nicht an so etwas gedacht. Eigentlich war er mit seinem Single-Leben auch ganz zufrieden. Es war besser. Sicherer... So lange er keinen festen Freund hatte, so lange konnte ihm das auch nicht zum Verhängnis werden. Niemand könnte hinter dieses Geheimnis kommen, auch, wenn er sich oft danach sehnte, sich endlich auf jemanden einzulassen.
Doch wann immer er darüber nachdachte, kam ihm 2010 wieder in den Sinn. Er wollte nicht, dass das je wieder passierte und so lange er Rennfahrer war, konnte sich das immer wiederholen und dann wäre er womöglich nicht nur alleine dran, sondern sein Freund gleich mit und das...

Das wollte er niemandem antun.
Es war besser, wenn er allein blieb, wenn er sich auf seine Karriere fokussierte und das war ihm in den vergangenen neun Jahren auch sehr gut gelungen. Bis jetzt...
Er seufzte, denn so kam er nicht weiter. Er hatte sich nie von seinen Ängsten beherrschen lassen wollen, aber diese eine saß so tief, dass er nicht wusste, wie er sie überwinden sollte. Gleichzeitig sagte ihm sein Gefühl aber auch, dass Lando es wert wäre, dass er es für ihn irgendwie schaffen könnte, sich zu überwinden.
Wie oft hatte er seine Gefühle in den vergangenen Monaten schon hinterfragt? Wie oft hatte er überlegt, wie er es anstellen könnte, wie er die Wahrheit aussprechen könnte? Wie oft wünschte er sich, dass er seine Vergangenheit einfach vergessen und diesen Schritt wagen könnte?
Es war längst an der Zeit, dass er auch handelte, dass er es endlich tat und es nicht nur in seinem Kopf stattfinden ließ. Natürlich wollte er nicht, dass sich seine Geschichte wiederholte, aber genauso wenig wollte er eines Tages bereuen müssen, dass er nicht den Mut gefunden hatte, es wenigstens zu versuchen.

Im Grunde war es ganz leicht.
Er kannte sogar die Zimmernummer seines Teamkollegen. Sie sahen sich andauernd, machten so viel miteinander. Einen Moment nur zu zweit zu finden, sollte gar kein Problem sein. Und dennoch fürchtete er, was er damit in Bewegung bringen könnte.
Selbst, wenn sein Eindruck bezüglich Lando ihn nicht täuschte, wollte das Risiko dennoch gut abgewogen sein. Es gab so viele denkbare Szenarien. Von völligem Entsetzen oder Abneigung seitens seines Teamkollegen, bis hin zu Konflikten innerhalb der McLaren-Crew und was nicht noch alles. Es konnte einfach alles schiefgehen, aber genauso gut könnte auch alles gutgehen.
Fakt war, dass er es nicht rausfinden würde, wenn er sich nur wieder und wieder den Kopf zerbrach. Er wünschte sich nur, er konnte den Spielstand des Lebens kurz abspeichern, bevor er diesen Schritt machte und falls es schiefging, einfach neu laden. Aber so funktionierte das Leben leider nicht.
Natürlich könnte er auch abwarten, ob Lando das Heft nicht irgendwann mal in die Hand nehmen würde, aber irgendwie kam er sich unverantwortlich und fies dabei vor. Sollte er richtig liegen und Lando ähnliche Gedanken haben, tat er sich damit vermutlich auch schwer.
In dem Fall wäre es wirklich besser, wenn er sich überwand...

⊱☆⊰

Das war so frustrierend!
Dabei hatte er es sich doch ganz genau zurechtgelegt. Bestimmt schon zum über tausendsten Mal, aber er hatte wirklich einen Plan gehabt. Einen, den er längst wieder verworfen hatte und nun herrschte in seinem Kopf wieder das reinste Chaos. Wieso nur musste er sich immer so schwertun?
Aber vermutlich war es besser so. Er hatte zwar immer wieder beschlossen, dass er aufhören würde, sich deswegen noch Sorgen zu machen, dass genug Gras über die Sache gewachsen war, doch so richtig vergessen konnte er es irgendwie auch nicht.
Dabei sollte man eigentlich meinen, dass vier Jahre lange genug waren, um darüber hinweg zu kommen. Nur wusste er auch, was er verlieren würde, wenn er sich so entschied und man konnte vielleicht viel vor der Öffentlichkeit verheimlichen, aber vor der eigenen Familie, das war schon bedeutend schwerer.
Und nichts anderes würde er tun müssen...

Dabei mochte er Carlos wirklich.
Mehr als das und er hatte schon den Eindruck, dass der Spanier ihn auch ziemlich gernhatte, möglicherweise ja auch ein bisschen mehr als das. Und er würde ihn so gerne danach fragen, nur traute er sich das eben nicht. Aus gutem Grund, wie er fand, denn er hatte einmal erlebt, was sein Vater davon hielt, dass er mit Mädchen nichts anfangen konnte.
In den vergangenen Jahren hatte er sich eben mehr auf die Karriere konzentriert und sowieso keine Zeit für eine Beziehung gehabt. Es hatte ein wenig gedauert, aber inzwischen lief es zwischen seinem Vater und ihm wieder ganz entspannt. Er war zufrieden mit ihm und schien ihren Streit von damals wirklich vergessen zu haben. Doch er wusste, dass es mit diesem Frieden sofort vorbei wäre, wenn rauskam, dass er sich in seinen Teamkollegen verguckt hatte.
Ehrlicherweise wollte er nicht rausfinden, was sein Vater dann mit ihm machen würde. Es war damals schon heftig gewesen und so sehr er es sich auch wünschte, er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vater seine Meinung inzwischen geändert hatte.

Er seufzte traurig.
Selbst, wenn Carlos auch etwas für ihn empfand, wäre es ohnehin unmöglich, dass sie auch zusammen sein konnten. Er sollte sich endlich von diesen Gedanken verabschieden und so weitermachen, wie bisher. Möglichst professionell, gute Leistungen zeigen und dann hoffentlich eines Tages in einem Top-Team um den Titel fahren.
Mehr wurde von ihm schließlich nicht verlangt. Mehr durfte er von sich selbst nicht verlangen. Sich verlieben und eine Beziehung haben, war gut und schön, aber bislang war er doch auch ohne sehr gut durch sein Leben gekommen. Es wäre etwas anderes, wenn er es wie auf der Konsole machen könnte, wenn er einfach seinen Spielstand sichern könnte, bevor er eine Entscheidung traf und wenn sie falsch war, einfach wieder neustarten und es besser wissen. Manchmal wünschte er sich wirklich, dass das Leben wie ein Spiel funktionieren könnte, aber das tat es nun einmal nicht. Entscheidungen hatten Konsequenzen und mit Konsequenzen musste man dann leben.
Und er fürchtete sich vor jeder Konsequenz, die eine mögliche Liebesbeziehung mit Carlos nach sich ziehen könnte. Er würde seine Gedanken einfach für sich behalten und so tun, als wäre alles wie immer, auch wenn ihm eine leise Stimme die ganze Zeit flüsterte, dass ihm das sowieso nicht gelingen würde.
Trotzdem musste er es wenigstens versuchen. Er konnte auf gar keinen Fall riskieren, dass er sich noch einmal so heftig mit seinem Vater stritt. Er wollte ihn nicht verlieren. Er wollte, dass er stolz auf ihn sein konnte, auch wenn es schrecklich wehtat, was vor vier Jahren zwischen ihnen vorgefallen war...