Nineteen | Prequel
Barcelona, Spanien
10. Mai 2019
„Ich weiß nicht, ob das klug ist."
Mit diesem Satz fing das ganze Dilemma in seinem Kopf erst so richtig an. Wieso hatte er das auch gesagt? Wieso hatte er nicht irgendwas anderes zustande gebracht? Etwas, was weniger abweisend klang und nicht sofort einen Fluchtreflex auslöste. Dann hätten sie zumindest darüber reden können. Aber jetzt ging ihm der andere aus dem Weg und das war alles andere als verwunderlich.
Er war so überrumpelt und überfordert gewesen. Das war aus dem Nichts gekommen. Er hatte es nicht kommen sehen und nicht gewusst, wo er das einsortieren sollte. Wie ernst es gewesen war, hatte die enttäuschte Reaktion gezeigt, die er mit seinen unbedachten Worten verursacht hatte.
Wieso er? Wieso kam er in Bahrain zu ihm und sagte ihm diese Dinge? Schon klar, wieso. Aber wie war ihm das in den Sinn gekommen? Was ließ ihn so denken und so fühlen? Was ließ ihn den Mut aufbringen, ihm sowas zu sagen? Er hätte ihn nie so eingeschätzt. Wie auch? Er hatte sich bis zu diesem Tag gedanklich ja auch nicht weiter mit ihm beschäftigt und dann wurde er so überfahren.
Er seufzte.
Er drehte sich da ganz schön im Kreis. Seit Bahrain waren sechs Wochen vergangen. Sechs Wochen, in denen sich ihre Wege nicht mehr gekreuzt hatten. Als würde der andere ihm absichtlich aus dem Weg gehen. Vermutlich war das sogar so. Das verstand er sogar ziemlich gut. Er selbst wäre über so eine Abfuhr sicher auch nicht glücklich und hätte auf ein peinliches Wiedersehen verzichten können.
Das war genau der Grund, warum er über seine Fahrerkollegen niemals auf diese Weise nachdenken wollte. Er wollte sich in keinen von denen vergucken und sein Leben damit noch komplizierter machen. Das war es auch ganz ohne alltägliche Dramen. In den letzten Jahren hatte er dank Giada auch alles bestens im Griff gehabt, sich die Dinge leichtgemacht und seine ganze Aufmerksamkeit auf den Motorsport gerichtet.
Ihm war auch klar, dass das nicht ewig funktionieren würde. Vielleicht würde sie das noch eine Weile mitmachen und ihm den Rücken freihalten, aber irgendwann kam der Tag, an dem sie ihre Trennung bekannt geben mussten, weil sie echte Beziehung mit Zukunft führen wollen würde. Dann ging es nicht mehr anders. Denn würde man sie mit ihrem tatsächlichen Freund irgendwo sehen, würde man ihr unterstellen, dass sie fremdging.
Einen solche Spießrutenlauf wollte er ihr unbedingt ersparen. Es würde besser sein, wenn er irgendwann der Arsch war.
Das war allerdings nicht sein aktuelles Problem.
Was ihn beschäftigte war die Tatsache, dass es im Fahrerfeld einen Kollegen gab, der offen zugegeben hatte, etwas für ihn zu empfinden. Er begriff nicht, wann und wie das passiert sein konnte. Was brachte einen anderen Fahrer nur dazu, ihn mit diesen Augen zu sehen? Er war sich immer ziemlich sicher gewesen, mit seiner sexuellen Orientierung eine große Ausnahme zu bilden. Wenigstens hier.
Mathematisch betrachtet, war es ja schon sehr unwahrscheinlich, es überhaupt unter die zwanzig besten Fahrer der Welt zu schaffen. Dass man dann unter diesen zwanzig sehr ausgesuchten Personen auch noch jemanden finden sollte, der die große Liebe sein sollte, entzog sich seiner Vorstellungskraft. Nur vielleicht sollte man an Liebesangelegenheiten auch nicht unbedingt mit Statistiken und Wahrscheinlichkeiten rangehen.
Immerhin war das viel mehr ein chemischer, als ein logischer Prozess. Wobei er irgendwie das dumme Gefühl hatte, mit diesen Vergleichen alles noch mehr zu verkomplizieren. Er stellte sich da echt nicht sehr geschickt an und er würde auch gerne mit irgendwem darüber sprechen, nur war das ein noch viel größeres Risiko. Schließlich würde er damit ja auch einen anderen Fahrer outen und das ging selbstverständlich nicht.
Obwohl Daniel und Pierre über ihn Bescheid wusste.
Mit Pierre war er viel zu lange befreundet, um ihm da etwas vorzumachen und Daniel und er hatten sich von Anfang an irgendwie gut verstanden. Inzwischen zählte er den Australier zu seinen engeren Freunden. Die Sache war eben nur, dass er vor ihnen nicht einfach einen weiteren Fahrer erwähnen konnte. Das tat man nicht.
Also musste er sich alleine überlegen, was er tun sollte. In Bahrain war er davon ausgegangen, dass er keine Gefühle für den anderen hatte. Nach diesem plötzlichen Geständnis aus heiterem Himmel, war er ein wenig in sich gegangen. Je länger er aber über die Beweggründe des anderen nachdachte, desto öfter stellte er sich auch die Frage, ob da etwas war, ob er nicht doch etwas für ihn fühlte.
Es musste schon eine Ewigkeit her sein, dass er über einen anderen Menschen so viel nachgedacht hatte. Normalerweise beschäftigte er sich weniger mit anderen. Der Beruf brachte es nun einmal mit sich, dass man sich lieber auf sich selbst konzentrierte. Für andere Dinge blieb nicht so viel Platz. Doch es wollte ihm alles nicht mehr aus dem Kopf.
„Ich weiß nicht, ob das klug ist."
Das hatte er gesagt und dem anderen damit sein Lächeln sofort aus dem Gesicht gewischt. Wieso hatte ihm das direkt einen Stich versetzt ihn so traurig zu sehen? Sofort hatte er das Bedürfnis gehabt, diese Aussage zu revidieren, aber da war der andere schon auf dem Absatz umgedreht und verschwunden. Er selbst war mit dem dummen Gefühl zurückgeblieben, es irgendwie vermasselt zu haben, nur weshalb glaubte er das?
Wenn er nichts für ihn empfand, dann könnte ihm das egal sein. Dann musste sich sein Kopf damit nicht auseinandersetzen. Tat er aber. Jedes verdammte Wochenende und auch dazwischen. Immer wieder hielt er nach ihm Ausschau und schien das alles klären zu wollen, nur traf er ihn nirgendwo mehr an. Es stellte sich auch noch immer die Frage, was er ihm in diesem Fall überhaupt sagen wollte.
Sollte er sich entschuldigen? Sollte er sagen, dass er es so nicht gemeint hatte? Sollte er es revidieren? Sollte er versuchen rauszufinden, was wirklich dahintersteckte? Sollte er darauf spekulieren, dass aus ihnen doch etwas wurde? Letzteres war so verdammt schwer vorstellbar. Warum auch immer. Hatte er einfach nur Angst? Er wollte er würde wenigstens begreifen, was in ihm selbst vor sich ging.
Er atmete einmal tief durch und wollte dann zum Team zurückkehren.
Er musste das alles aus dem Kopf kriegen und aufhören, darüber nachzugrübeln. Das brachte ihm nichts. Am besten er vergaß, was passiert war und konzentrierte sich wieder auf seinen Job. Selbst wenn der Saisonstart bisher recht bescheiden ausgefallen war, könnte noch einiges drin sein. Damit sollte er sich befassen. Wenn es nur so einfach wäre.
Er hatte seinen guten Vorsatz kaum gefasst, als er ihn schon wieder brach, denn in einigen Metern Entfernung konnte er ihn sehen.
Lando.
Und an seiner Seite unverkennbar Carlos, der einen Arm um seine Schulter gelegt hatte und mit ihm sprach. Er sollte nicht wissen wollen, worüber sie redeten. Wollte er aber. Weil Lando bedrückt aussah, die Schultern hängen ließ und er das dumme Gefühl nicht loswurde, dass er dafür verantwortlich war.
Es widerstrebte ihm ja, sich an der Gefühlswelt anderer die Schuld zu geben, aber es ging um Lando! Ein irrationaler Gedanke, den er sich genauso wenig erklären konnte, wie alles andere. Es tat ihm leid. So einfach war das. Er hatte irgendwie den Wunsch, etwas zu ändern, dafür zu sorgen, dass er wieder gut drauf war, so wie während den Wintertests oder in Australien.
Dabei hatte er nicht darauf geachtet.
Wie Lando normalerweise war, hatte er ja nur am Rande mitbekommen. Es war ihm erst aufgefallen, dass er sonst fröhlicher und aufgedrehter war, nachdem er das nicht mehr war. Weil er ihm direkt eine Abfuhr erteilt hatte, ohne sich erst einmal so richtig anzuhören, was Lando zu diesem mutigen Schritt bewogen hatte.
Er musste ihn wahnsinnig verunsichert haben. Noch mehr Dinge, über die er sich eigentlich keine Gedanken machen wollte. Lando und er...
Rational betrachtet passte das gar nicht zusammen. Er hatte in den letzten Wochen viel Zeit gehabt, über den kleinen Briten nachzudenken, über die Eindrücke, die er von ihm hatte. Auf ihn wirkte der McLaren-Rookie noch ein wenig, wie ein Kind. Ein wenig albern, etwas zu verspielt und sehr unbedarft.
Er war unerfahren, sicherlich auf vielen Ebenen. Aber auch unbeschwert. Wie jemand, der sein Leben genoss und manchmal ein bisschen zu verpeilt für seine Umgebung war. Er war auf gewisse Weise sogar niedlich. Er mochte das auch, aber wenn er das alles mit sich selbst verglich.
Verschlossen. Nicht besonders redselig. Auf seinen Job fokussiert, etwas kühl und unnahbar. Wenigstens wurde er so von den meisten hier wahrgenommen. Bei seinen Freunden verheilt sich das selbstverständlich etwas anders.
Zu Lando passte das nicht.
Fand er wenigstens. Er glaubte, dass Landos Gedanken sich noch um die einfachen Dinge des Lebens drehten, während er selbst sich damit nicht mehr so viel beschäftigen konnte. Er hatte bisher wenig über den möglichen, perfekten Partner nachgedacht, aber...
Wenn er es getan hatte, dachte er immer an jemanden, der so alt war wie er selbst, vielleicht auch etwas älter, mit einer ähnlichen Lebenserfahrung, mit dem er über viel Tiefgründiges sprechen könnte. Wobei niemand sagte, dass das mit Lando nicht auch funktionieren könnte.
Fairerweise musste er ja zugeben, dass er ihm gar nicht die Chance gegeben hatte, ihn näher kennenzulernen. Er mutmaßte hier nur, ging von oberflächlichen Eindrücken aus, die kaum das widerspiegeln konnten, was Realität war. Statt ihm zu sagen, wie unklug es doch wäre, hätte er vielleicht mit einem charmanten Lächeln reagieren und ihn fragen sollen, ob sie nicht mal in Ruhe sprechen wollten.
Wäre er nur auf das gefasst gewesen. In dem Moment, als Lando zu ihm gekommen war, hatte er gedanklich noch mit dem Ausgang seines Rennens gehadert. Nicht, weil er einen Fehler gemacht hatte, aber es war dennoch schlecht gelaufen. Seine erste Pole-Position, dann hatte er sich mit seinem Teamkollegen duellieren müssen, die Mercedes waren superstark und trotzdem hatte er sich auf den ersten Platz zurückgekämpft und dann kam er nur auf Platz Drei ins Ziel. Weil der Motorzylinder nicht mehr funktionierte und ihn kurz vor dem Ende so langsam machte, dass beide Mercedes-Fahrer ihn wieder einholen konnten. Das war schon hart gewesen...
Deswegen hatte er sich auch ganz bewusst etwas zurückgezogen.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn jemand stören würde und erstrecht nicht Lando. Dem war aufgefallen, dass es ihm wohl nicht so gut ging und hatte etwas schüchtern gemeint, dass das ja echt ein blödes Rennen gewesen war. Eigentlich ganz niedlich und unverfänglich. Aber es war auch deutlich zu sehen gewesen, wie nervös Lando gewesen war.
Lange hatte Lando damit gerungen, ihm zu sagen, dass er ihn mochte, dass er ihn gernhatte. Immer wieder hatte er seine nervösen Worte selbst unterbrochen, auf den Boden geguckt, sich kaum getraut und war sogar rot angelaufen. Dann hatte er irgendwann gesagt, dass er sich wohl ein bisschen in ihn verguckt hatte und sicherlich verrückt war, ihm das einfach zu sagen. Worte, die Stille zwischen ihnen auslösten.
Lando war immer wieder nervös von einem Fuß auf den anderen getreten, hatte es sichtlich kaum ertragen können, auf seine Antwort zu warten und dann haute er diesen dummen Satz raus, über den er nun die ganze Zeit grübelte. „Ich weiß nicht, ob das klug ist." Ganz hervorragend! Da hätte er ihm auch in die Eier treten können. Hätte sich für Lando sicherlich genauso angefühlt.
Er musste auf jeden Fall selbst aktiv werden, anders ging es nicht.
Fakt war, dass er durch sein ständiges Grübeln nicht weiterkam. Er stellte sich immer wieder dieselben Fragen und die konnte er sich aus der Ferne nicht beantworten. Mit Daniel oder Pierre zu reden, kam aktuell nicht in Frage. Also kam er um ein Gespräch mit Lando nicht herum. Er musste mit ihm reden und was er wirklich fühlte, würde er auch nur rausfinden, wenn er ihn besser kennenlernte.
Vorausgesetzt, dass Lando sowas nach der Abfuhr noch wollte. Er musste es wohl auf einen Versuch ankommen lassen. Eigentlich wäre es ihm ja lieber, Lando alleine zu erwischen, aber er sah ihn das erste Mal nach sechs Wochen überhaupt mal irgendwo. Dass Carlos dabei war, mochte ungünstig sein, nur war es nicht zu ändern.
Wenn er nicht in Frankreich immer noch über dieselben Probleme sinnieren wollte, musste er diese Gelegenheit ergreifen. Er musste ihn ja nicht sofort verschrecken und auf Bahrain ansprechen. Er könnte ihn auch unverfänglich fragen, ob...
Er schüttelte den Kopf. Vor Carlos musste er sich echt überlegen, wie er das anging. Schließlich hatte Lando seine Mimik selten im Griff. Er machte es sich echt nicht leicht, aber am Ende musste er etwas tun.
DU LIEST GERADE
Grid Tales
Fanfic⊱ Wie sieht so eine Teambesprechung mit der FIA aus? Auf welche Art und Weise haben Nico und Lewis sich früher so duelliert? Was ging bei Checos Marketingtermin so gehörig schief? Was versteht man unter einem kleinen brasilianischen BBQ? Eine bunte...