54. Kapitel

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Fangen wir an, zu begreifen ~ Wer wenn nicht wir (Wincent Weiss)

„Wach auf, Emmi. Das Gewitter ist vorbei“, weckte mich eine tiefe, angenehme Stimme. Blinzelnd öffnete ich die Augen. Benjamin stand vor mir und hinter ihm war der Höhleneingang.
„Was?“, fragte ich. „Das Gewitter ist vorbei“, wiederholte er. Augenblicklich sprang ich auf. „Zeig!“ Ich quetschte mich an ihm vorbei und ging nach draußen. Es war merklich kühler
geworden, noch hingen ein paar Wolken am Himmel, doch die würden vorbeiziehen. Ich sog tief den Geruch des Waldes ein, der jetzt, nachdem es geregnet hatte, nochmal viel stärker als sonst war.

„Wie konntest du bei dem Lärm schlafen?“, fragte mich Benjamin. Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe heute Nacht nicht so gut geschlafen.“ Er nickte. „Ah. Okay. Es ist ungefähr halb sechs, aber ich würde vorschlagen, dass wir zurück gehen, zumal wir klatschnass sind und es kühl ist. Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich möchte nicht krank werden.“

Ich stimmte zu und wir liefen schweigend nebeneinander her. Es war leicht unangenehm. Nicht nur wegen der nassen Klamotten. Als wir bei der Lichtung ankamen, suchte ich sofort meine Mütze. Der Wind hatte sie ein paar Meter weiter geweht, sodass sie hinter einem heruntergefallenen Ast lag. Sie war triefend nass und kalt. Na toll. Statt sie direkt aufzusetzen behielt ich sie in der Hand. Bis wir beim Schloss waren, konnte sie noch trocknen.

Benjamin trat zu mir. „Gefunden?“, fragte er. Nickend zeigte ich ihm meine Mütze. „Ihhh. Ganz schön nass“, meinte er. Wir schwiegen wieder.
„Warum hast du dir Sorgen um mich gemacht?“, erkundigte ich mich nach einer Weile.
„Was?“ Verwirrt sah er mich an.
„Du wolltest nicht, dass ich das Höhlchen verlasse, weil ich dabei sterben konnte, das hast du gesagt. Also hast du dir Sorgen gemacht. Warum machst du dir auf einmal Sorgen um mich?“

Er blieb still. Erst, als ich mit keiner Antwort mehr rechnete, gab er mir eine. „Ich habe mir schon immer Sorgen gemacht, wenn es um dich ging, Emmi.“ Ich sah ihn an. „Weil ich für die Rettung der Welt gebraucht werde, klar. Würde ich sterben, dann wären alle verloren. Stimmt. Warum habe ich überhaupt gefragt? Du hast es mir bereits gesagt. Nach der Explosion. Ich glaube, jemandem das Leben zu retten, fällt unter die Rubrik Sorgen machen.“

Als er keinen Ton von sich gab, zog sich mein Herz zusammen. Die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt. Jetzt war zuletzt gekommen. Er wollte mich nicht. Er war nicht in mich verliebt und würde es auch nie sein. Warum hatte ich eigentlich überhaupt Hoffnung gehabt? Er hat nie irgendwelche Andeutungen gemacht, oder so. Ich konnte nicht verhindern, dass sich
meine Augen mit Tränen füllten.

Benjamin sah es. Er fluchte. „Du verdrehst alles!“, rief er dann fast schon verzweifelt. „Mann! Ich habe versucht, gemein zu sein, dich nicht zu nah an mich ran zu lassen, mich von dir fernzuhalten. Ich habe auf ganzer Linie versagt. Wie habe ich auch nur annehmen können, es wäre anders!“ Es kam mir vor, als würde er nicht mit mir sprechen, sondern mit sich selbst.

Trotzdem fragte ich: „Warum bist du nicht mehr gemein zu mir? Warum hast du an deinem Geburtstag zu mir gesagt, dass du nicht mehr gemein sein willst? Es gibt doch keinen Grund dafür, es nicht mehr zu sein. Du bist der Prinz. Du kannst alles sein.“ Ich wusste, dass das vermutlich nicht schlau war, aber ich wollte wissen, was Sache war. Warum er so gemein gewesen ist. Und warum er es nicht mehr war. Was hatte sich geändert?

„Es war so. Verdammt. Schwer. Ich konnte nicht mehr.“
Benjamins Antwort irritierte mich. „Es war zu schwer, nett zu mir zu sein? Du musstest erst üben, nett zu mir zu sein? Das ist … wow.“ Mein Herz bekam einen Riss. Warum tat ich mir das hier an? Ich hatte die Wahrheit haben wollen, aber wenn das die Wahrheit war, wollte ich am liebsten die Zeit zurückdrehen und nie fragen.

Er lachte leise. „Ich hab doch gesagt, du verdrehst alles. Es war zu schwer, nicht nett zu sein. Ich musste mich immer wieder selbst ermahnen, nicht nett zu dir zu sein.“
Jetzt verstand ich gar nichts mehr. „Du wolltest nicht gemein sein? Warum hast du es dann getan? Es hat mich verletzt! Ich dachte, du magst mich nicht, oder so. Warum?“

Eine Träne fand ihren Weg über meine Wange. Benjamin trat einen Schritt auf mich zu. Dann hob er die Hand und strich sie sanft mit dem Daumen weg. Ich sah ihm in die Augen. „Deshalb,
Emmi. Deshalb.“ Im nächsten Moment beugte er sich zu mir hinab und legte seine Lippen auf meine.

Erst stand ich wie erstarrt da. Ein Schauer rann durch meinen Körper. Dann legte sich in meinem Kopf ein Schalter um. Es war, als wäre endlich etwas an den richtigen Platz gerückt. Ich schloss die Augen und erwiderte den Kuss genauso sanft wie er. In meinem Bauch explodierte ein Feuerwerk.

Benjamin seufzte auf und legte seine Hände an meine Taille, um mich näher an sich zu ziehen. Ich ließ es zu und vergrub meine Finger in seinen Haaren. Sie waren genauso weich, wie ich es mir vorgestellt hatte, obwohl sie davor regennass gewesen waren. Meine Haut kribbelte wie verrückt und mein Herz schlug so schnell, dass ich mir sicher war, dass er es merkte. Und als ich seins schlagen spürte, galoppierte es los. Unsere Herzen schlugen im Einklang miteinander. Sie schlugen genau gleich. Exakt. In ein und demselben Takt.

Völlig fasziniert davon, löste ich mich langsam von ihm. Doch statt mich loszulassen, lehnte Benjamin seine Stirn sanft gegen meine. „Mika hat schon gestern gesagt, dass ich es endlich tun soll. Und er hatte verdammt nochmal recht damit“, flüsterte er ein wenig heiser. Eine Gänsehaut überzog
meinen Körper. Bevor ich irgendetwas antworten konnte, redete er weiter.

„Hör zu. Ich bin ein Prinz und du meine angebliche Dienerin. Ich weiß aber auch, dass wir beide uns nicht länger voneinander fernhalten können. Daran sind wir beide gescheitert.“ Er lehnte sich zurück und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ich weiß auch, dass meine Mutter mich einen Kopf kürzer machen wird, wenn sie erfährt, dass ich mich in eine Angestellte verliebt habe. Aber ich möchte dich nicht verlieren, verstehst du das? Ich möchte mit dir zusammen sein und ich habe das Gefühl, dass du
das auch willst.“

Perplex nickte ich.
„Wenn wir zusammen sein wollen, dann geht das nur heimlich. Es ist beschissen, ich weiß, aber die Regeln meiner Mutter sind, was Beziehungen im Schloss angeht, sehr streng. Wenn der Kampf und diese ganze bescheuerte Sache vorbei ist, gehe ich als erstes zu ihr und erzähle ihr von uns, aber bis dahin … Es tut mir so verdammt leid,
ich …“ Ich brachte ihn mit einem weiteren Kuss zum Schweigen. Er war nicht minder schön als der erste.

„Das ist okay. Ich verstehe das. Aber bitte, bitte, behandle mich nicht mehr so wie am Anfang. Das kannst du mir jetzt nicht mehr antun“, erklärte ich ihm. Benjamin nickte. „Glaub mir, das will ich auch gar nicht. Das wollte ich nie.“

Später lag ich in meinem Bett und starrte lächelnd an die Decke. Benjamin hatte mich geküsst! Er mich! Und es war toll gewesen! Mehr als toll. Meine Mütze hing über der Heizung, die zwar aus war, aber irgendwie hatte ich das Bedürfnis, sie trotzdem dort hinzuhängen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass alles, was nass war, dort trocknen musste.

Sophia schlief schon, aber Marie traf sich mit ihrem Freund, Tristan, in der Menschenwelt. Ich fragte mich, ob sie ihm jemals die Wahrheit sagen würde. Ich glaubte, er hätte es verdient zu wissen, wer seine Freundin wirklich war. Su hatte es mir nicht gesagt und als ich es herausgefunden hatte, war es nicht schön gewesen, herauszufinden, dass mich meine beste Freundin so sehr belogen hatte. Ich hatte ihr schließlich auch von meinem Geheimnis erzählt. Daher dachte ich, dass ich mich mit Tristan vergleichen konnte.

Irgendwann kam mein Gedankenkarussel dann endlich zum Stehen und ich schlief ein. Das Gefühl von Benjamins Lippen noch immer auf meinen.

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