68. Kapitel

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When the days are cold ~ Demons (Imagine Dragons)

Fünf Minuten später saß ich hinter Benjamin auf seinem Schwemo und er startete. Leiser als mit einem Elektroauto fuhren wir los. Schnell nahmen wir an Fahrt auf und nach nur wenigen Sekunden waren wir schneller als ich jemals mit Mina gefahren war.
„Wow“, entkam es mir. Der Wind zerrte an meinen Haaren, die unter dem Helm hervorlugten, den Benjamin mir gegeben hatte. Meine Hände berührten minimal seine Jacke. Ich hielt mich gerade so fest, dass ich nicht umfiel. Näher an ihn heranzurutschen ertrug ich nicht.

Die Bäume und Büsche im Wald flogen an uns vorbei. Obwohl, eigentlich flogen wir ja. „Achtung, festhalten!“, rief Benjamin von vorne. Ich krallte meine Finger in seine Jacke, als er mehr Gas gab und ich das Gefühl hatte, schneller als ein Flugzeug zu sein. Es war unbeschreiblich.

Dann wurde er wieder langsamer. Ich war ein bisschen froh drum, denn wenn er noch länger so schnell gefahren wäre, wäre ich gezwungen gewesen, mich richtig an ihm festzuhalten. Und das konnte ich nicht. Plötzlich sah ich vor mir weiße Bäume. Schnee. Ende Juli?! Mein Blick fiel auf den Boden und ich erkannte die Grenze. Sie war wirklich viel näher an Holu. Ganz genau hinter der Grenze begann der Schnee. Wir bretterten über die Markierung. Jetzt befanden wir uns auf feindlichem Terrain. Unwillkürlich hielt ich die Luft an, als erwartete ich, im nächsten Moment angegriffen zu werden. Doch nichts passierte.

Benjamin gab noch einmal Gas, bevor er auf einmal langsam wurde. Die Grenze lag schon so weit hinter uns, dass ich sie nicht mehr sehen konnte. „Scheiße!“, rief Benjamin.
„Was ist denn los?“ Das Schwemo wurde immer langsamer, bis es nach fünf Minuten zum Stillstand kam. „Benjamin? Was ist los?“, fragte ich erneut.
„Finito. Ende. Finish. Oder auch: Der Sprit ist leer.“
War das jetzt sein Ernst? „Du willst mir jetzt nicht weismachen, dass ein mit Magie fahrendes Motorrad Sprit braucht und dass dieser leer ist, oder?“
Benjamin stieg ab. „Doch, genau so ist es.“
„Das kann jetzt nicht wahr sein! Wie weit ist es noch bis zum Schloss?“

Er sah mich zerknirscht an. „Wenn wir zu Fuß gehen, dauert es ungefähr drei, wenn wir uns beeilen zwei Tage.“ Mein Mund klappte auf. „Das ist ein Scherz, oder?“, fragte ich grimmig. Das musste einfach einer sein. Doch Benjamin schüttelte bedauernd den Kopf. „Warum hast du vorher denn
nicht nachgeschaut, wie viel noch vorhanden ist?“
„Ich hab nicht dran gedacht, okay! Du
übrigens auch nicht.“

Ich schloss die Augen. Ganz ruhig, Emilia. Wir kommen da hin. Auch ohne Schwemo, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Es klappte einigermaßen. „Jetzt müssen wir
laufen, oder? Dann los. Je früher wir loslaufen, desto früher kommen wir bei Xenia an.“
„Es gäbe noch eine Möglichkeit“, hielt Benjamin mich auf. „Was für eine?“, fragte ich misstrauisch.
„Ich könnte fliegen. Ich nehme dich huckepack und dann fliegen wir“, erklärte er. Ich starrte ihn an. „Nein. Nein, auf gar keinen Fall.“

„Wir wären aber in fünfzehn Minuten dort.“
In meinem Innern focht ich einen Kampf gegen mich selbst. Schließlich siegte die Vernunft. Wenn ich meine Freunde retten wollte, durfte ich meine Gefühle nicht über sie stellen. „In Ordnung“, stimmte ich also zu. „Du müsstest unsere Rucksäcke nehmen“, fügte Benjamin noch hinzu und reichte mir seinen. Seufzend nahm ich ihn entgegen.

Benjamin drehte sich um und stellte sich breitbeinig hin. Ich biss mir auf die Unterlippe, nahm ein wenig Anlauf und saß im nächsten Moment auf seinem Rücken. „Halt dich gut fest.“
Ich nickte nur. Benjamin ging leicht in die
Knie, breitete seine Arme aus und sprang ab. Wir knallten sofort wieder auf den Boden. Er versuchte es nochmal und nochmal. Jedes Mal war es, als würde uns eine Kraft am Boden halten.

„Was soll die Scheiße?!“, beschwerte er sich.
„Hast du verlernt wie man fliegt?“
„Nein!“, protestierte er heftig. „Es ist, als wäre es mir hier nicht erlaubt, zu fliegen. Keine Ahnung, was Xenia für abgedrehte Spielchen spielt.“ Er gab es auf und ich rutschte von ihm herunter. Als ich wieder stand, sagte ich: „Dann laufen wir. Eine andere Möglichkeit haben wir nicht.“
Er nickte. „Du hast recht. Was Su, Sophia und Tristan angeht, können wir uns aber ein bisschen Zeit lassen. Wenn sie hier auch nicht fliegen können, wovon ich ausgehe, sind wir näher an ihnen, als sie ahnen. Wenn wir einfach weiterlaufen, müssten wir sie einholen.“ Jetzt lag es an mir zu nicken.

Ich gab ihm seinen Rucksack und lief in die Richtung, in die wir gefahren waren. Hinter mir hörte ich, wie Benjamin sein Schwemo abschloss. Dann spürte ich eine kalte Hand, die nach meinem Ellenbogen griff. Ein Kribbeln fuhr mir den Arm hinauf und verschwand in meiner Brust. Ich entriss ihm meinen Arm. „Was ist denn?“
„Wir müssen nach links. Du läufst in die falsche Richtung, Emmi“, erklärte Benjamin mir seufzend. Ups. Abrupt drehte ich mich nach links und lief geradeaus weiter. Benjamin schloss zu mir auf. Sein Arm, der in einer Fleecejacke steckte, streifte immer wieder wie zufällig meinen Arm, der sich wiederum in einer einfachen Strickjacke befand. Ich fror nicht. Dieses Mal war ich unglaublich froh über meine eigene Heizung.

Benjamin fing nach zwei Stunden an zu zittern. Es hatte Minusgrade und er eine zu dünne Jacke an.
Ungefähr eine halbe Stunde später stolperte ich über einen Felsbrocken, der aus der Erde ragte.
Blitzschnell griff Benjamin nach meinem Arm und verhinderte somit, dass ich hinfiel. „Danke.“
„Immer wieder gerne.“

Ich schaute auf den Boden und erkannte, dass ich über etwas gestolpert war, das aussah, wie ein Band aus Steinen. „Was ist das?“, fragte ich verwirrt. Benjamin folgte
meinem Blick. „Das… Oh scheiße!“
„Was ist denn?“
„Das sind die Überreste der Mauer, die Holu
eingrenzt. In ihr ist Koboldgarn verwoben. Und Koboldgarn zerfällt, wenn es in Berührung von Talifias Kälte kommt. Und damit zerfällt die Mauer. Bisher ist es nur hier im Norden so, aber wenn die Kälte sich ausbreitet, ist Holu ungeschützt.“ Okay, das war wirklich scheiße.

„Und was machen wir jetzt?“, erkundigte ich mich. Benjamins Gesichtsausdruck nahm etwas Entschlossenes an. „Jetzt gehen wir zu Xenia und verhindern, dass sie sich noch weiter verbreitet.“ Ich nickte. „Dann los.“
Weitere zwei Stunden später waren meine Wimpern mit kleinen Eiskristallen bedeckt, die ich zwar nicht spürte, die dafür aber meine Sicht einschränkten.
Regelmäßig hörte ich Benjamins Zähne aufeinanderschlagen. Er würde erfrieren, wenn das so weiterging. „Gib mir mal deinen Rucksack“, wies ich ihn an. Er drehte sich verwirrt zu mir und ich konnte sehen, dass seine Nase so rot war wie die von Rudolph, dem Rentier. „Mach einfach.“
Misstrauisch reichte er ihn mir.

Augenblicklich machte ich ihn auf und kramte darin herum. „Was machst ...“
„Anziehen.“ Ich hielt ihm einen Pulli, ein T-Shirt und eine weitere Fleecejacke hin.
Warum zum Teufel nahm man zweimal die gleiche Jacke mit? Benjamin nahm die Jacke und das T-Shirt. „Den Pulli ziehst du an“, sagte er mit zitternder Stimme. Ich widersprach. „Mir ist nicht kalt und mir wird auch nicht kalt werden. Und selbst wenn, habe ich eigene Klamotten dabei.“
Dass das nur ein T-Shirt und ein paar Socken waren, verschwieg ich. „Du hast viel weniger an als ich! Zieh jetzt diesen Pulli an!“, beharrte Benjamin.

„Mir wird nicht kalt! Mir wird auch nicht heiß! Mein Körper reguliert meine Temperatur so, dass sie immer bei siebenunddreißig Grad liegt. Ich bin immer
gleichwarm. Ich kann weder unterkühlen, noch an einem Hitzekollaps sterben. Also ziehst du den Pulli an.“ Benjamin sah mich zwar skeptisch an, nahm ihn aber entgegen. Als er alle Sachen anhatte, musste ich mir ein Lachen verkneifen. Er sah aus wie eine unförmige Kugel. Okay, eher wie ein Oval, aber es sah lustig aus.

„Ein Mucks und du bist tot“, murrte er. „Das wäre Mord an der eigenen Familie. Ich glaube, dazu bist du nicht in der Lage.“ Obwohl ich diese Worte grinsend sagte, zog sich in mir alles Erdenkliche zusammen. Sofort wurde Benjamin wieder ernst.
„Emilia…“
„Wir sollten weitergehen. Ich will noch diese Woche ankommen.“ Stumm lief ich
weiter.

Als wir vier Stunden später an einer Höhle in einer Felswand vorbeikamen, hatte ich das Gefühl, dass meine Beine abfallen würden. Jeder Schritt tat mehr weh als der vorherige. „W-Wir sollten in der H-Höhle übernachten, E-Emmi“, meinte Benjamin. Seine Stimme zitterte so sehr wie sein Körper. Ich nickte und lief die paar Schritte zurück. Die Höhle war so groß wie mein Zimmer im Schloss und als ich eintrat merkte ich, dass mich meine Füße nicht länger tragen konnten.

Ich fiel erschöpft auf die Knie und krabbelte nach ganz hinten. Vor der Wand legte ich mich hin und benutzte meinen Rucksack als Kopfkissen. Benjamin ließ sich vor mir nieder. Keine fünf Minuten später lagen wir Kopf an Kopf und seine Haare kitzelten meine Kopfhaut. So müde wie noch nie in meinem Leben schloss ich die Augen.

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