60. Kapitel

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Before it started falling apart ~ Back to the Start (Michael Schulte)

„Sie muss aufwachen! Sie muss!“ Ich nahm eine Frauenstimme wahr. Sie klang verzweifelt und so, als würde sie weinen. „Und was dann?“, fragte eine männliche Stimme. „Willst du ihr die Wahrheit sagen?“
„Ja! Natürlich! Sie muss es erfahren! Und ich will sie nicht noch einmal verlieren. Du etwa?“
„Nein! Wie kannst du daran auch nur denken?! Nie im Leben wäre ich dazu ein zweites Mal imstande!“
„Dann können wir nur hoffen, dass sie aufwacht.“

Kurz darauf nahm jemand meine Hand. Sie war eiskalt und zierlich. Es war die der Frau. Ich wollte die Augen öffnen. Ich wollte sehen, wer die Frau war und was sie hier tat. Doch ich konnte nicht. Mit aller Kraft versuchte ich, meine Augen aufzureißen. Vergeblich. Es war, als würde mich eine unsichtbare Kraft zurückhalten und mich daran hindern.

Du wirst sterben, erhallte es laut und unheimlich in meinem Kopf.
Du wirst sterben und dafür werde ich sorgen. Du wirst mir nicht alles kaputt machen! Meine Tierchen sind stärker als du. Sie werden dich umbringen. Ganz langsam wäre es mir am liebsten. Du bist zu schwach um mir Widerstand zu
leisten, Emilia. Genieße deine letzten Stunden.

Die Stimme wurde zum Ende hin immer leiser, bis sie schließlich ganz verschwand. Was zum Teufel war das gewesen?! Von wem kam diese Botschaft? Wer immer es war, die Person wollte mich tot sehen. Und das gefiel mir gar nicht. Plötzlich war die Blockade weg. Ich öffnete die Augen als wäre nie etwas gewesen. Azurblaue Augen blickten meinen entgegen. „Christian“, flüsterte sie. Hinter ihr erschien ein Mann mittleren Alters mit einem breiten Pflaster an der Schläfe. Das Königspaar sah mich mit großen Augen an.

Ich wich leicht panisch ihren Blicken aus und schaute auf meine Hand, die noch immer in der der Königin lag. Verwirrt runzelte ich meine Stirn. „Was ist hier los? Was machen Sie hier?“, fragte ich sichtlich irritiert.
„Du bist in einem unserer Krankenzimmer“, meinte der König. Ich sah auf und erkannte, dass er recht hatte. Es sah aus wie in einem Krankenhaus. Also wie ein Zimmer im Krankenhaus. Nicht wie das ganze Gebäude.

„Ich will ja nicht unhöflich sein, aber das beantwortet nicht meine Fragen … äh … Ihre Majestät.“ War das die richtige Anrede? Ich hatte keine Ahnung. Der König tauschte einen Blick mit seiner Frau. Was ging hier ab? Jetzt setzte er sich auch noch auf mein Bett!
Um Himmels willen! „Wir müssen dir etwas erklären“, meinte er. Ich nickte. Das wollte ich auch schwer hoffen! Diese ganze Situation war mehr als nur ein bisschen absurd.

„Es ist eine Erinnerung“, fügte die Königin hinzu. Wieder nickte ich. Von mir aus konnten sie beginnen. Ich
wollte nur endlich wissen, warum sie sich so verhielten wie … wie sie sich nun eben verhielten. Der Mann atmete tief durch, bevor er anfing zu sprechen.

„Es geschah in einer regnerischen Nacht. Juliette erwartete ein Kind und es sah so aus, als würde es diese Nacht so weit sein. Ihre Wehen wurden immer stärker. Bei jedem neuen Tritt des Kindes, das unbedingt aus ihr herauswollte, leuchtete ihr Bauch von innen lila auf. Es war nicht das erste Mal, dass wir dieses Phänomen an ihr feststellten. Während der gesamten Schwangerschaft hatten wir dies beobachtet können. Und jedes Mal, wenn es geschah, war es, als würde uns das Schicksal verraten.

Als es schließlich an der Zeit war, gebar Julie ihr Kind. Es war ein Mädchen. Doch wir wussten, dass, wenn wir unser Kind beschützen wollten, es nicht bei uns aufwachsen konnte. Ich bereitete den Schein vor, während sie das Baby in den Armen hielt. Der Moment, in dem es uns für immer verlassen hatte, werde ich nie
vergessen.“

Aaalles klar … Und wie genau beantwortete das jetzt meine Frage? Es tat mir ja echt leid für die zwei, dass sie das durchmachen mussten, aber was hatte das mit mir zu tun?
„Wie meinen Sie das?“, fragte ich. In seinen Augen stand Schmerz, als er mich ansah. „Du weißt es immer noch nicht?“
„Nein, ich meine, was sollte ich denn wissen? Es tut mir leid, aber ich weiß
nicht, worauf Sie hinauswollen. Und es tut mir leid, dass Ihnen so etwas passiert ist. Das wollte ich nur gesagt haben“, meinte ich.

„Du“, platzte es aus der Königin heraus. Irritiert sah ich sie an.
„Was ist mit mir?“
„Du bist es! Du bist unsere Tochter, Emmi!“

Diese Aussage zog mir den Boden unter den Füßen weg. Entsetzt blickte ich sie an. „W-Was? Nein! Das kann gar nicht sein! Meine Eltern …“
„Doch. Es ist wahr. Wir sind deine Eltern“, stimmte der König seiner Frau zu. Oder mein Vater? Konnte das sein? War das möglich? Stimmte das?

Tausend Gedanken wirbelten in
meinem Kopf herum. Es gelang mir nicht, auch nur einen von ihnen zu fassen. „Wenn du einen Beweis brauchst, den haben wir.“ Der Mann, der angeblich mit mir verwandt war, zog ein Bild aus seiner Hosentasche und reichte es mir. Unsere Hände zitterte beide, als ich es entgegennahm. Auf dem Bild lag die Königin in einem Bett während ihr Mann neben ihr saß. Auf ihrem Arm hielt sie ein Kind. Es hatte lila Augen und, was der ausschlaggebende Punkt für mich war, ein Ying-und-Yang-Zeichen auf der Stirn.

Es war zu viel für mich. Das Fass lief über. Panisch sprang ich auf und
ignorierte, dass mir dabei schwindelig wurde. Ich drehte mich um und rannte aus dem Zimmer, ohne irgendetwas wahrzunehmen. Den König hörte ich noch was von Gehirnerschütterung sagen, doch schon verschwand ich hinter der nächsten Ecke. In meinen Ohren piepte es. Ich befand mich in einem Gang, den ich noch nicht kannte, doch das war mir egal.

Ich wollte nur weg. An die frische Luft und atmen. Atmen, bis sich mein Kopf und mein Herz beruhigt hatten und ich richtig begreifen konnte, was ich da so eben erfahren hatte. Ich hetzte ein paar Treppen hinunter, kam an der Bibliothek von Josef vorbei und rannte von dort aus auf die Wiese. Es war stockdunkel und finsterste Nacht. Ich hatte den ganzen Tag geschlafen. Diese Erkenntnis war die einzige, die ich hatte. Die einzige, die sich in meinem Kopf manifestieren konnte.

Ich machte nicht halt, auch nicht, als ich zwischen den ersten Bäumen verschwand. Im Wald war es kühler, doch dank meiner eigenen Heizung merkte ich nach ein paar Sekunden nichts mehr davon. Fast blind hastete ich durch den Wald. Erst als ich auf der Lichtung ankam, blieb ich stehen. Keuchend und schwer atmend stand
ich da. Mein Herz schlug viel zu schnell in meiner Brust. Dann kamen die Tränen. Ich ließ sie laufen und mich an einem Baum hinabsinken.

„Meine Eltern haben mich weggegeben. Sie hätten mich behalten können, aber das haben sie nicht getan.“ Meine Stimme zitterte. Ich hatte mich an das letzte bisschen Hoffnung gekrallt, das mir sagte, dass sie gestorben waren. Jetzt das Gegenteil feststellen zu müssen und zu realisieren, dass sie mich nicht gewollt hatten, machte mich fertig. Doch sofort taten sich Fragen auf.

„Wie passt das Bild im Flur dazu? Warum haben sie so reagiert? Und warum haben sie mich weggegeben? Der König hat gesagt, dass sie mich schützen wollten und das die einzige Möglichkeit war, aber wovor wollten sie mich schützen? Sie kannten die
Prophezeiung, da bin ich mir sicher. Aber warum haben sie mich nicht einfach trainiert? Ich verstehe gar nichts mehr. Mein ganzes Leben ist verkorkst gewesen und nun, obwohl ich die Wahrheit kenne, ist es keinen Deut besser.“

Ich musste reden. Wenn ich nicht aussprach, was mir im Kopf herumging, würde er platzen. Meine Finger krallten sich in meine Hose. Immer und immer wieder musste ich die Worte sagen, die mein Leben veränderten. Die alles veränderten. Nur so wurde es wahr. Und mit der Wahrheit kamen die Tränen. Sie rannen meine Wangen hinab wie Sturzbäche, während mein Körper von den Krämpfen erschüttert wurde.

Sie hatten mich gehen lassen. Sie hatten mich alleine in die Menschenwelt gelassen. Sie hatten mich weggeschickt. Ich hatte immer den Wunsch verspürt, zu wissen wer meine Eltern waren. Doch hätte ich vorher gewusst, wer mich eigentlich hätte aufziehen, wer mich hätte aufwachsen sehen, wer für mich da sein sollte, wäre ich vorsichtiger mit meinem Wunsch gewesen. Ich hatte mir ein verbittertes altes Ehepaar vorgestellt, dass sich ständig stritt und mich sofort wegschickte, sobald sie mich erkannten.

Christian und Juliette waren nichts davon. Weder alt, noch verbittert und auf keinen Fall würden sie mich einfach wegschicken. Ich hatte ihre Unterhaltung mit angehört. Sie wollten es nicht noch einmal tun. Am liebsten würde ich für immer hier sitzen bleiben, in meinen Gedanken versinken und weinen. Doch wenn ich hier sitzen blieb, würde es sich auch nicht verbessern. Ich brauchte Antworten auf meine Fragen. Nur dann hatte ich die Möglichkeit, das alles wirklich zu verstehen.

Ich stand wieder auf und wischte mir mit einer energischen Handbewegung die Tränen vom Gesicht. Ich hatte mein verdammtes Schicksal zu erfüllen. Und vorher musste ich wissen, wer ich war. Wo ich herkam. Weinen und sitzen bleiben war dumm und führte zu nichts. Entschlossen machte ich mich auf den Weg zum Schloss, dem Königspaar entgegen.

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