1. Kapitel

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I wanna hide the truth ~ Demons (Imagine Dragons)

Seufzend lehnte ich den Kopf gegen die kühle Scheibe. Unter mir verschwamm die Straße zu einem grauen Streifen und die lauten Rufe der Kinder drangen an meine Ohren. Seit ich heute Morgen aufgewacht war, hatte ich das Gefühl, etwas würde falsch sein. Ich wusste nicht, was es war, und das bescherte mir Kopfschmerzen.

Als der Bus an meiner Schule hielt, wartete ich, bis alle anderen ausgestiegen waren, erst dann verließ ich ihn. Müde trottete ich hinter den Schülern her. Früher wäre jetzt meine beste Freundin neben mir gelaufen, doch seit Su umgezogen und damit die Schule gewechselt hatte, war ich Einzelgängerin. Es war nicht so, dass ich keine Freunde wollte. Die anderen wollten mich nicht. Irgendetwas hielt alle immer davon ab, mit mir Kontakt aufnehmen zu wollen. Vor allem seit der Sache damals im Schwimmkurs.

Im Klassenzimmer ließ ich mich auf meinen Platz fallen und holte meine Sachen aus der Tasche.
"Hallo, Emilia. Bist du krank, oder warum siehst du so scheiße aus? Ach nee, das ist ja dein normales Gesicht." Ich musste gar nicht hochschauen um zu wissen, dass es Ryan war. Er war jeden Morgen der erste, der anfing. Und der letzte, der am Ende des Tages aufhörte.

Ich hatte mittlerweile bemerkt, dass es nichts brachte, wenn ich mich verteidigte. Hier half nur ignorieren und manchmal nichtmal das.
"Warum denn so trotzig? Ich will nur mit dir reden", meinte Ryan und hob die Hand über meinen Kopf. Ganz langsam. Ganz so, als sollte ich es nicht bemerken. Tja, falsch gedacht. Wenn es eine Sache gab, die ich registrierte, dann war es, wenn jemand meiner Mütze zu nahe kam.

"Mach deine Hand weg", knurrte ich wütend.
"Ach, da hat jemand ja doch Gefühle. Hey, Jungs, was meint ihr?" Er drehte sich zu den anderen um, die sich im Kreis um meinen Tisch versammelt hatten. "Soll ich meine Hand wegmachen?" Ein Chor aus Verneinungen prasselte auf uns ein.
Ryan grinste zufrieden. "Hab ich mir's doch gedacht. Guys, auf euch ist Verlass."

Seine Finger näherten sich weiter meinem Kopf. Ich wollte aufstehen und mich entfernen, doch als ich versuchte, meinen Stuhl nach hinten zu schieben, konnte ich es nicht. Holden grinste auf mich hinab. "Du kommst hier nicht weg, Emilia."
Ich fluchte leise.
Ryans Hand schwebte nun nur noch ein paar Zentimeter über mir und nur brach der Schweiß aus. Ich musste irgendetwas tun. Jetzt.

In dem Moment, in dem seine Fingerspitzen den Stoff berührten, stemmte ich meine Füße gegen die Tischbeine und brachte den Tisch mit einem lauten Knall zu Boden. Ryan und seine Freunde lachten. "Was war das denn?", fragte er und kam noch näher. Scheiße.

Okay. Eigentlich hatte ich darauf verzichten wollen, aber er ließ mir keine andere Wahl. Ich atmete so tief ein wie ich konnte. Und in der nächsten Sekunde pustete ich so fest ich konnte in die Luft. Eine Windböe kam auf. Sie war so stark, dass Ryan und sein Gefolge taumelten. Das gab mir die Chance, endlich den Stuhl nach hinten zu schieben und zur Tür zu rennen.

Bevor ich mich jedoch in Sicherheit bringen konnte, erschien mein Mathelehrer in der Tür. Er blieb wie angewurzelt stehen als er das Klassenzimmer sah. "Was ist denn hier passiert?"
Und erst jetzt bemerkte ich die Unordnung. Blätter und Stifte lagen überall verteilt und die Bücher waren allesamt aufgeklappt. Ein paar waren auf den Boden gefallen.

"Aufräumen", befahl mein Lehrer. "Aber plötzlich. Ich glaub, ich spinne." Schimpfend ging er zu seinem Pult und hob die Kreide von seinem Stuhl auf, die vom Tisch gerollt war.
Ich wandte mich wieder meinem Platz zu. Ryan und der Rest waren weg und standen ganz unschuldig an ihre Tische gelehnt. Manchmal halfen mir meine Kräfte wirklich.

Irgendwie überstand ich die nächsten vier Stunden und als ich in der zweiten Pause auf dem Schulhof stand, rechnete ich nicht damit, dass Ryan einen weiteren Angriff starten würde. Deshalb war ich umso überraschter, als ich mich plötzlich von ihm und zwei seiner Freunde umzingelt vorfand.

"Was wollt ihr?", fragte ich. Ryan schnaubte. "Bist du so dumm, oder tust du nur so? Denkst du wirklich, dass wir dich nach der Aktion heute Morgen in Ruhe lassen? Keine Ahnung, wo dieser Wind herkam, aber du wirst dafür bezahlen. Und was wäre besser geeignet als der ganzen Schule zu zeigen, wie Emilia Wachs ohne Mütze aussieht. Du hast uns lange genug auf die Folter gespannt. Ich bin neugierig, was du darunter verbirgst."

"Wahrscheinlich ein dickes hässliches Horn", prustete Holden los. Auch Ryan grinste. "Lasst es uns herausfinden." Die Jungs kamen näher und näher, umzingelten mich von drei Seiten, sodass ein Entkommen unmöglich war.
In dem Moment, in dem Ryans Finger meinen Arm umgriffen, geschah etwas mit mir. Es war, als würde ein Schalter in meinem Körper umgelegt werden.

Mit schier unmenschlicher Kraft riss ich mich von Ryan los und im nächsten Augenblick landete mein Fuß im Bauch von Holden. Dass dieser stöhnend zu Boden ging, bemerkte ich nur am Rande, denn ich war damit beschäftigt, Derek einen Kinnhaken zu verpassen. Er stolperte zurück und fiel mit dem Rücken auf den Boden. Sein Ellenbogen traf mit einem Knirschen auf.

Nun wollte Kian, der dritte Junge, meine Mütze erfassen, doch bevor er dies tun konnte, traf meine Faust seine Nase. Es knackte und fast sofort schoss eine Salve Blut hervor. Mit Tränen in den Augen schlug Kian die Hände vors Gesicht. Als ich aus dem Augenwinkel sah, dass sich Ryan wieder aufrichtete, rannte ich davon.

Zehn Minuten später saß ich im Unterricht. Ohne Ryan, Holden und Kian. Der Schalter war wieder umgelegt worden und meine Hände zitterten wie verrückt. Was zum Teufel hatte ich da eben getan? Ich hatte keine Ahnung, woher ich so fest zuschlagen konnte und wollte es am liebsten ganz nicht herausfinden. Ich war schon Freak genug.

Doch als ich die Sirenen des Krankenwagens vor dem Fenster hörte, wusste ich, dass ich keine Wahl hatte. Ich war gerade noch abnormaler geworden als ich es ohnehin schon war.


Die Kraft der Elemente - Alles liegt in deiner HandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt