Jayda spürte, wie sich der eiskalte Regen einen Weg durch ihren Kragen unter ihr Shirt bahnte. Sie erzitterte von dem Gefühl, das die nassen Tropfen auf ihrer Haut verursachten, gleichzeitig spürte sie ein Kribbeln auf ihrer Kopfhaut. Ihr Haar, ihre Kleidung, alles war komplett durchnässt, ebenso wie ihr Rucksack.
Glücklicherweise hatte sie auf Hunters Rat gehört und ihre frischen Klamotten in eine Plastiktüte gesteckt. Kurz schoss ihr das Bild in den Kopf, dass der Regen sogar durch das Plastik der Big Y-Tüte drang. Gewundert hätte es sie nicht.
„Stellen wir uns erst einmal da vorn unter", rief Hunter ihr zu, während er an ihrem Ärmel zupfte. Jayda nickte und folgte ihm zu der kleinen Imbissbude, auf die Hunter gedeutet hatte. Es war ein Imbisswagen, die Theke wurde durch eine schmutzige, blau-weiß gestreifte Markise geschützt.
Etwas außer Atem gelangten sie dort an und wieder einmal spürte Jayda, wie ihr Magen sich schmerzhaft vor Hunger zusammenzog. Ihre Wangen fühlten sich heiß an und als sie den Duft der fettigen Pommes roch, lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
Fragend sah sie zu Hunter, der sicherlich genauso großen Hunger hatte, wie sie selbst. Immerhin waren sie gestern den ganzen Tag durch einen Wald marschiert und das blöderweise ohne etwas zu Essen. Hunter riss beinahe seinen Rucksack von den Schultern und platzierte ihn vor seinen Füßen auf den Boden.
„Zeit fürs Abendessen", sagte er, als könnte er Jaydas Gedanken hören. Er kramte in seinem Rucksack herum, bis er das kleine Ledertäschchen herauszog, in dem er sein Geld verwahrte. Seine Hände zitterten, vermutlich vor Kälte, als er ein paar Münzen hervorkramte und auf die Theke beförderte.
„Zwei Pommes", bestellte er unfreundlicher als nötig und warf anschließend einen Blick zu Jayda. Ein schüchternes Lächeln umspielte ihre Lippen, bevor sie verlegen auf den Boden sah.
Schon zwei Tage, nachdem sie von zu Hause weggelaufen war, hatte man ihr die dreihundert Dollar gestohlen, die sie mitgenommen hatte. Weitere zwei Tage hatte sie ohne Essen ausgehalten, bis Hunter sie aufgelesen hatte. Noch immer kam sie sich blöd vor, dass sie sogar zum Weglaufen zu nicht taugte. Würde ihr Vater wissen, dass sie sogar dabei versagte, fühlte er sich bestimmt in seiner Meinung von ihr bestärkt. Nämlich dass sie eine Enttäuschung war und nichts auf die Reihe bekam.
„Hey, nicht nachdenken!", riss Hunter sie aus ihren Grübeleien. Obwohl sie diesen Jungen, der genau wie sie siebzehn Jahre alt war, erst seit ein paar Tagen kannte, schien er bereits jetzt schon ihre Gedanken lesen zu können. Zumindest kam es ihr so vor.
Unwillkürlich hob sie den Blick und sah in sein rundes, aber gleichzeitig irgendwie markantes Gesicht. Sein blondes Haar war vollkommen durchnässt und es fielen kleine Tropfen von seinen Haarspitzen auf seine Schultern, wo sie in seinem Pulli versickerten. Ein leichter Bartschatten bedeckte seine Wangen und sein Kinn und sie bemerkte eine Tannennadel, die sich auf seine Wange verirrt hatte.
„Ich habe dir doch gesagt: Nicht zu viel darüber nachdenken", wiederholte Hunter streng, was Jayda zu einem Nicken veranlasste. Eigentlich hatte sie gar nicht so sehr gegrübelt, zumindest im Vergleich zu ihren sonstigen alltäglichen Grübeleien und sie fragte sich, was Hunter wohl glaubte, worüber sie nachdachte.
Bevor sie jedoch irgendetwas sagen konnte, zu ihren Gedanken oder der Tannennadel, knallte der dickbauchige, ungepflegt wirkende Imbissbudenbesitzer zwei Pappschalen Pommes mit Ketchup auf den Tresen. Sofort war Jaydas Magen wieder erwacht und grummelte noch einmal. Hunter nahm eine der Schalen und reichte sie ihr, bevor er seine eigene nahm und genau wie sie dem Tresen den Rücken kehrte. Jayda schnappte sich eine der Pommes und schob sie mit einem genüsslichen Seufzen in den Mund.
„Schmeckt gut, was?", fragte Hunter mit vollem Mund. Jayda nickte und ihr wurde wieder einmal bewusst, dass sie ihr Essen nicht bezahlen konnte.
„Danke, dass du mir aushilfst", sagte sie so leise, dass es beinahe von dem noch immer anhaltenden Regen verschluckt wurde. Sie wagte es kaum, Hunter anzusehen, so peinlich war ihr das alles. Doch er machte eine wegwerfende Handbewegung, wobei er beinahe seine Pommes durch die Gegend geschmissen hätte. Eine fiel aus der Schale und landete in einer Pfütze auf der Straße. Blitzschnell bückte Hunter sich, hob sie wieder auf, pustete und schob sie sich in den Mund.
„Drei-Sekunden-Regel", kommentierte er nur, aber Jayda grinste in sich hinein. Ihr Blick ruhte einen Moment lang auf Hunter, der nur wenige Zentimeter größer war, als sie selbst. Er war schlank, beinahe mager, was er jedoch unter seinen vier Schichten Kleidung gut verbarg. Seine Augen waren wässrig-blau, ganz anders als ihren dunklen.
Auf einmal erwiderte Hunter ihren Blick und lächelte sie kauend an. Sofort wandte sie den Blick ab, während ihre Wangen sich röteten. Hunter war wirklich nett und er tat ziemlich viel für sie, ohne sie richtig zu kennen, dennoch war sie ihm gegenüber schüchtern. Und nicht nur ihm, eigentlich allen Menschen gegenüber, zumindest eine Zeitlang.
Sie sah sich neugierig um, so weit der bindfadenartige Regen es zuließ. Sie standen an einer einsamen, offensichtlich wenig befahrenen Straße, denn die ganze Zeit, in der sie nun hier an der Imbissbude standen, war noch kein einziges Auto vorbeigekommen. Diese Straße lag mitten in einem Nadelwald, aus dem sie gekommen waren. Trotz dem Schutz der Bäume waren sie klitschnass geworden und wenn sie den durchgehend grauen Himmel betrachtete, schienen auch keine wärmenden Sonnenstrahlen in Sicht zu sein. Sie fragte sich, wer sich wohl zu dieser Imbissbude verirrte, aber sie tippte auf Waldarbeiter, die inzwischen natürlich im Feierabend waren.
Jayda hatte keine Ahnung, wie spät es inzwischen war, aber wenn sie aufgegessen hatten, sollten sie sich auf jeden Fall auf die Suche nach einem Unterschlupf für die Nacht machen.
„Weißt du, was ich mich schon seit einiger Zeit frage?", durchbrach Hunter die Stille. Offensichtlich hatte er kein Problem damit, von ihr nur sporadische Antworten zu bekommen, seinen Redefluss hemmte es nämlich nur wenig. Ohne eine Reaktion von ihr abzuwarten oder sie auch nur anzusehen, sprach er weiter.
„Ich frage mich, ob wir nach dem Tod in ein anderes Leben wandern."
Jayda schob sich noch eine Handvoll Pommes in den Mund, bevor sie antwortete.
„Keine Ahnung, vielleicht."
Hunter schnaubte belustigt.
„Ich glaube nicht. Das ist nur eine Vorstellung, an die wir uns klammern, damit wir uns vorspielen können, die Toten hätten nun ein besseres Leben", sagte er locker, als würde er nicht über ein ernstes Thema reden. Jayda schluckte schwer und tastete in ihrer Schale nach weiteren Pommes, aber sie hatte bereits alle aufgegessen.
„Kann schon sein", erwiderte sie nur, denn irgendwie fühlten sich ihre Gedanken auf einmal schwer und träge an. Sie war müde und erschöpft von ihrem Marsch durch den Wald, gleichzeitig fühlte sie sich euphorisch, heute einige Kilometer zwischen sich und ihr Elternhaus gebracht zu haben.
„Wie auch immer. Gehen wir weiter", sagte Hunter schließlich, nahm ihr die leere Schale aus der Hand und beförderte sie zusammen mit seiner eigenen in den bereitgestellten Mülleimer. Er schulterte wieder seinen Rucksack und holte tief Luft, als würde er sich für etwas wappnen. Jayda zog die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf, obwohl es ohnehin keinen Unterschied mehr machte, denn sie war bereits bis auf die Knochen nass.
„Na komm", murmelte Hunter, zupfte einmal an ihrem Ärmel und trat unter der Markise hervor in den strömenden Regen. Jayda spannte die Daumen unter die Riemen ihres Rucksacks und folgte ihm. Sie wusste, dass sie nur so lange auf der Straße bleiben würden, bis sie außer Sichtweite des Imbisswagens waren, immerhin war es im Wald für sie am sichersten, wenn sie nicht gefunden werden wollten. Denn Wald gab es in dieser Gegend wirklich viel.
Kaum dass der Regen auf ihren Kopf klatschte und ein trommelndes Geräusch auf ihrem Rucksack verursachte, fing sie wieder an zu zittern. Hoffentlich würde der Regen bald nachlassen, damit sie ihre Kleider anständig trocknen und sich aufwärmen konnte. Allerdings befürchtete sie, dass es eine eiskalte Nacht werden würde, genau wie die letzte. Und sie befürchtete auch, dass Hunter sie wieder unaufgefordert wärmen würde, was sie noch tiefer in seiner Schuld stehen ließ.
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Amber
HorrorJayda und Hunter, zwei siebzehnjährige Ausreißer, finden Zuflucht in einem verlassenen Herrenhaus. Blackwood Manor, ein im Wald gelegenes, beeindruckendes Anwesen ohne Strom und Wasser wird bald ihr Zufluchtsort. Allerdings dauert es nicht lange, bi...