Am liebsten wäre Jayda vor Scham im Boden versunken. Ihre Emotionalität war ihr peinlich und Hunter hielt sie sicherlich für verweichlicht.
Noch immer gingen sie nebeneinander durch den Wald, die Taschenlampe als einzige Lichtquelle. Unheimliches Rascheln unterbrach hier und da ihr Schritte und am liebsten hätte sie sich bei Hunter untergehakt, um sich ein wenig sicherer zu fühlen. Aber das ging nicht, sie kannten sich ja kaum. Abgesehen davon wollte sie nicht, dass er womöglich Absichten bekam, die auf ihren Körper abzielten. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie schüttelte sich, wobei sie mit der Schulter gegen die von Hunter stieß. Sofort spürte sie seinen Blick auf sich.
„Tschuldigung", murmelte sie, ohne seinen fragenden Blick zu erwidern. Hunter seufzte, sagte aber nichts. Jayda bekam das Gefühl, dass sie sogar ihn enttäuschte, so wie sie all die Menschen in ihrem Leben enttäuschte. Unwillkürlich schlang sie die Arme um sich, denn das allzu bekannte Gefühl auseinanderzufallen überkam sie.
Neben ihr keuchte Hunter auf einmal, zitternd und nervös. Ohne es verhindern zu können warf sie einen kurzen Blick zu ihm und erkannte in dem schwachen Licht, dass er so verbittert und beinahe wütend aussah, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Seine Augenbrauen waren eng zusammengezogen, sodass sich eine tiefe Falte auf seiner Stirn bildete und sein Mund war zu einem geraden Strich geworden. Offensichtlich hing er genau wie sie in ihrem Leben vor dem Abhauen fest.
„Willst du drüber reden?", fragte sie zaghaft, was Hunter ruckartig den Kopf zur ihr herumreißen ließ. Beinahe geschockt sah er sie an und schüttelte heftig den Kopf.
„Aber du denkst auch gerade an früher?", hakte sie nach, obwohl sie es eigentlich wusste. Wieder seufzte er herzzerreißend.
„Ja, ich... ich denke an früher. Konnte ich eigentlich bisher ganz gut verdrängen."
Jayda nickte, denn ihr war es genau so ergangen. Plötzlich blieb Hunter stehen. Um ein Haar wäre Jayda ins Straucheln geraten, so sehr hatte sie sich an den Gleichschritt mit ihm gewöhnt. Ihre Schritte verstummten und es umgab sie eine alles durchdringende Stille, die sich wie ein schweres Tuch auf ihre Brust legte und ihr den Atem nahm. Sogar der Regen schien aufgehört zu haben.
„Siehst du das, was ich sehe?", fragte Hunter und ließ langsam den Lichtkegel noch oben wandern. Erst da erkannte Jayda, dass sie vor einem schwarzen, schmiedeeisernen Zaun standen. Hätte Hunter sie nicht darauf aufmerksam gemacht, wäre sie glatt dagegen gelaufen.
Jayda kniff die Augen zusammen und erkannte hinter dem Zaun nur noch mehr Bäume in der Dunkelheit. Fragend sah sie ihn an, aber anstatt zu beschreiben, was er denn zu sehen glaubte, trat Hunter näher an den bestimmt zwei Meter hohen Zaun. Automatisiert folgte Jayda ihm, bis sie beide die Finger um die senkrechten Streben des Zauns legten und hindurchsahen.
Knapp über ihren Köpfen bogen sie sich zu einem Halbkreis, sodass eine Art Beule nach außen stand, bevor sie in scharf aussehenden Spitzen gen Himmel endeten. Unten, etwa bis Kniehöhe, steckten die Streben in einem dunklen Steinsockel. Dieser Zaun passte eher zu einem gruseligen, alten Friedhof als zu einem Wald.
„Da hinten ist ein Haus, siehst du? Wenn du zwischen den beiden krummen Bäumen hindurchsiehst, erkennst du es", sagte Hunter in die noch immer herrschende Stille hinein. Noch einmal kniff sie die Augen zusammen und versuchte die Stelle zu finden, die er meinte.
Tatsächlich lag sie genau geradeaus in dem Lichtkegel der Taschenlampe. Hinter den Bäumen, vielleicht einhundert Meter von ihnen entfernt, ragte zwischen den Bäumen ein altes Herrenhaus auf. Eigentlich war es mehr ein Schatten, der sich bedrohlich hinter den Bäumen versteckte, die Mauern wirkten dunkel, mehrere kleine Türme mit spitzen Dächern und runde Fensterbögen waren zu erkennen.
„Wir sollten unser Glück versuchen", sagte Hunter, hievte mit einer geschickten Bewegung seinen Rucksack höher und stieg auf den Steinsockel. Jayda durchfuhr das Gefühl von Panik.
„Du meinst... du willst zu dem Haus gehen?", fragte sie ungläubig, denn mit Sicherheit sollte dieser Zaun genau gegen Eindringlinge wie sie schützen. Hunter reichte ihr die Taschenlampe, bevor er ihre Frage beantwortete.
„Willst du lieber hier im dunklen Wald schlafen? Oder lieber in einem warmen, weichen Bett?"
Jayda senkte den Blick. Allerdings schien Hunter eine Sache außer Acht zu lassen.
„Was, wenn dort jemand wohnt?", fragte sie und als hätte er erst in diesem Moment begriffen, dass das durchaus eine Möglichkeit war, hielt er in seiner Bewegung inne. Er legte seinen Zeigefinger ans Kinn, als würde er darüber nachdenken.
„Okay, suchen wir das Eingangstor. Vielleicht finden wir dort Hinweise auf mögliche Bewohner."
Obwohl diese Option für sie besser klang, als über den Zaun zu klettern, war ihr ganz und gar nicht wohl dabei, weiter durch den dunklen Wald zu gehen. Womöglich lag das Eingangstor auf der gegenüberliegenden Seite und sie würden noch eine ganze Weile brauchen, bis sie es fanden. Mit einer geschickten Bewegung sprang Hunter von dem Steinsockel herunter und nahm ihr wieder die Taschenlampe aus der Hand. Jayda überkam auf einmal ein ungutes Gefühl. Sollten dort wirklich Leute wohnen, riefen sie womöglich noch die Polizei, die sie wieder zurück zu ihren Eltern brachte.
„Hunter", sagte sie nervös und griff nach seinem Arm, bevor er sich wieder in Bewegung setzte.
„Hm?"
Er warf ihr über die Schulter einen Blick zu, in den Augen auf einmal so etwas wie Zuversicht.
„Wenn... wenn sie die Polizei rufen, weil sie uns für Einbrecher halten...", setzte sie zögerlich an, doch Hunter fiel ihr ins Wort.
„Das wird schon nicht passieren. Wir müssen es versuchen. Ich hab da irgendwie ein gutes Gefühl", erwiderte er, wandte den Blick wieder nach vorn und ging los. Noch immer hielt Jayda seinen Arm umklammert und folgte ihm, ohne ihn loszulassen. Sie hatte ein ganz und gar nicht gutes Gefühl bei der ganzen Sache, vielleicht war es aber auch nur die Angst, erwischt zu werden.
Sie gingen einige Schritte am Zaun entlang, bis sich ihre Sorge, Hunter könnte mit seiner Hilfsbereitschaft eine Absicht haben, ihr körperlich näher zu kommen, wieder in ihr ausbreitete. Ruckartig ließ sie seinen Arm los und verschränkte stattdessen die Arme vor der Brust. Glücklicherweise ignorierte er es und ging unbeirrt weiter.
Sollte sie ihn vielleicht darauf ansprechen, dass sie absolut keinerlei Interesse an ihm hatte? Oder machte sie sich damit nur lächerlich? Unsicher biss sie sich auf die Lippe und dachte an die vergangenen Tage. Weder hatte Hunter sie geifernd angesehen, noch hatte er sie irgendwie berührt, abgesehen davon, dass er sie in den Nächten an sich gezogen und sie so gewärmt hatte. Aber selbst das hatte er nicht als Möglichkeit genommen, seine Hände an stellen wandern zu lassen, an denen sie nichts zu suchen hatten.
Kopfschüttelnd vertrieb Jayda den Gedanken an seine Hände auf ihrem Körper. Immerhin war Hunter erst siebzehn und vermutlich genau so unsicher in der Hinsicht, wie sie selbst.
„Hey", sprach Hunter sie nach wenigen Augenblicken an und wieder bemerkte sie seinen ruhigen Blick auf sich.
„Hast du auch diese quälenden Gedanken? So ein ungutes Gefühl?", fuhr er fort, was Jayda augenblicklich den Kopf zu ihm drehen ließ.
„Ja, ich...", setzte sie an, aber erst da wurde ihr so richtig bewusst, dass sie schon seit sie den Wald betreten hatten, diese kreisenden Gedanken an ihr Elternhaus und dieses Misstrauen Hunter gegenüber spürte. Er nickte.
„Ich auch. Vermutlich tut uns eine Mütze Schlaf und trockene Kleidung gut", sagte er betont fröhlich, aber es war klar, dass er mit den Gedanken ganz woanders war. In seiner Vergangenheit, die sie nicht kannte.
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Amber
HorrorJayda und Hunter, zwei siebzehnjährige Ausreißer, finden Zuflucht in einem verlassenen Herrenhaus. Blackwood Manor, ein im Wald gelegenes, beeindruckendes Anwesen ohne Strom und Wasser wird bald ihr Zufluchtsort. Allerdings dauert es nicht lange, bi...