Hunter war wütend, vor allem auf sich selbst. Er wollte nicht einsehen, dass hier womöglich tatsächlich Kräfte am Werk waren, die er nicht erklären konnte. Klar, alles deutete darauf hin und Jayda schien davon vollkommen überzeugt zu sein, dennoch kam er nicht umhin, das alles zu verleugnen.
Die Fantasie des Menschen brachte erstaunliche Dinge zustande, wenn die Angst mit einem durchging. Allerdings spürte er auch, dass seine Gegenwehr bröckelte. Diese Fratze da oben... Wenn das nur ein Auswuchs seiner Fantasie war, hätte diese sich zu etwas vollkommen Neuem entwickelt. Zwar war er nicht fantasielos, aber er konnte ganz gut unterscheiden, was die Realität war und was sich in seinem Kopf abspielte. Und wenn er ehrlich zu sich war, dann hatte dieses Monster nicht wie ein Bild, das nur in seinem Kopf war gewirkt. Er hatte es wahrhaftig gesehen!
Gerade als er die Veranda erreichte, wandte er den Blick über die Schulter zu Jayda. Sie ging einige Schritte hinter ihm, die Arme um ihren Körper geschlungen, als wäre ihr kalt.
„Jayda, ich.. Ich wollte nicht grob zu dir sein. Es ist nur so schwer zu begreifen", sagte er sanft, woraufhin sie den Blick hob und ihn mit leicht geöffneten Lippen ansah. Sie blieb vor ihm stehen und er bemerkte, wie ihre Mundwinkel leicht nach oben zuckten.
„Mir fällt es auch nicht leicht zuzugeben, dass solche Dinge hier vor sich gehen, aber ich denke schon, dass solche Dinge existieren. Nur wenn man offen dafür ist, kann man etwas erklären, was man auf den ersten Blick nicht versteht", sagte sie und klang dabei ziemlich schlau, beinahe so, als würde ihr Unterbewusstsein aus ihr sprechen.
Hunter nickte langsam. Sie hatte recht. Er musste seinen Geist öffnen, zulassen, dass er seinen Horizont erweiterte. Denn anders gab es keine Möglichkeit, dass er hier herauskam.
Ein Seufzen entfuhr ihm und er bedeutete Jayda mit einer Kopfbewegung, ihm zurück ins Innere des Hauses zu folgen. Dort war es immerhin warm und tatsächlich könnte er einen kleinen Snack vertragen. Sie befolgte seine Anweisung und als er die schwere Eingangstür mit einem lauten Quietschen öffnete, schwappte eine Welle der Erleichterung über ihn. Offensichtlich wollte das Haus oder wer auch immer hier das Sagen hatte, sie durchaus hinein-, nur nicht herauslassen. Und abgesehen von den Spukerscheinungen war dieses Anwesen ein recht komfortabler Unterschlupf.
Mit einem lauten Krachen ließ Jayda hinter ihm die Tür ins Schloss fallen und sofort umfing sie eine dicke, schwere Stille. Die Kränze hingen noch immer im Eingangsbereich und drehten sich langsam und beinahe verächtlich um sich selbst.
„Essen wir einen kleinen Happen", sagte er und wandte sich in Richtung der Küche. Das Essen, welches noch übrig war, hing in einer Tüte an seinem Rucksack und als er danach griff und seine Hand die knisternde Tüte berührte, knurrte sein Magen.
„Was haben wir denn noch zu essen?", fragte Jayda hinter ihm und er musste zugeben, dass sie da etwas ansprach, das auf lange Sicht ein Problem werden würde. Wenn sie das Gelände des Anwesens nicht verlassen konnten, wie sollten sie sich Essen besorgen? Klar, im Wald gab es einiges Essbares, aber der Winter nahte. Er antwortete nicht, denn er wollte sich mit diesen Problemen erst befassen, wenn er etwas von ihren Vorräten im Magen hatte.
Er öffnete die Küchentür und erstarrte augenblicklich, sodass Jayda in ihn hineinlief. Sie stieß einen erschrockenen Laut aus und er hörte, wie sich sein Rucksack ein wenig zusammenknautschte.
„Was ist denn?", fragte sie und er bemerkte, wie sie sich neben ihn drängte, um ebenfalls in die Küche sehen zu können. Hunter blinzelte ein paar Mal, denn das hier war alles einfach nur unlogisch! Sein Blick haftete auf dem wuchtigen Esstisch, den sie vollkommen leer verlassen hatten. Nun standen dort jede Menge Speisen, von einem duftenden Laib Brot bis hin zu getrockneten Würsten. Er schüttelte den Kopf und sah noch einmal hin, aber das Essen war noch immer dort. Auch Jayda schien es zu sehen, denn sie sog scharf die Luft ein.
„Sieht so aus, als will jemand, dass wir hier bleiben", sagte sie, auch wenn das ohnehin schon offensichtlich war. Langsam ging Hunter in die Küche, näher an den Tisch heran. Das Essen war eindeutig echt, er konnte die verlockenden Gerüche wahrnehmen. Allerdings kam ihm auf einmal ein ziemlich schockierender Gedanke.
„Was, wenn das Essen vergiftet ist?", fragte er mehr sich selbst als Jayda. Diese stand ebenfalls am Tisch und hatte die Hand schon nach einem saftig aussehenden Apfel ausgestreckt, als sie erschrocken ihre Hand zurückzog. Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn ansah. Anscheinend hatte sie daran noch gar nicht gedacht.
„Wir haben ja noch etwas von unserem Essen. Nehmen wir zuerst das", sagte sie nach einem kurzen Moment und machte eine auffordernde Handbewegung, dass er ihr die Tüte mit dem Essen geben sollte. Anscheinend hatte auch sie Hunger. Hunter grinste, ließ seinen Rucksack von den Schultern auf einen der Stühle am Tisch sinken und löste die Tüte.
„Hier", sagte er und schwang sie zu ihr herüber. Sofort nahm sie sie und ließ ihre Hand darin verschwinden. Hunter setzte sich und wartete geduldig, bis sie sich eines der kleinen, abgepackten Brötchen herausgenommen hatte und die Tüte an ihn reichte. Allerdings musste er zugeben, dass das ganze Essen vor ihm auf dem Tisch ziemlich verlockend war.
„Lass uns lieber ins Wohnzimmer gehen. Hinterher werde ich noch schwach und nehme etwas hiervon", sagte er und deutete auf den Laib Brot, der ihm geradezu einflüsterte, dass er ihn essen sollte.
„Hast recht", sagte Jayda und setzte sich sogleich in Bewegung. Hunter grinste, denn in manchen Hinsichten waren alle Menschen gleich. Die natürlichen Triebe wie Hunger oder Durst konnte niemand abschalten, auch wenn er sich noch so sehr bemühte.
Hunter folgte Jayda ins Wohnzimmer, wo sie sich mit einem Seufzen auf ihrem Sofa niederließ. Ihren Rucksack ließ sie achtlos auf den Boden fallen und kaum dass sie saß, biss sie genüsslich in ihr Brötchen. Auch Hunters Magen machte sich noch einmal bemerkbar, beinahe so, als gierte er nach dem Essen in der Küche. Aber es wäre wirklich besser, wenn sie es erst einmal nicht anrührten.
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Amber
HorrorJayda und Hunter, zwei siebzehnjährige Ausreißer, finden Zuflucht in einem verlassenen Herrenhaus. Blackwood Manor, ein im Wald gelegenes, beeindruckendes Anwesen ohne Strom und Wasser wird bald ihr Zufluchtsort. Allerdings dauert es nicht lange, bi...