Kapitel 34 - Hunter

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Hunter zitterte am ganzen Körper, als er Jaydas Worten lauschte. Sie erzählte in einem so distanzierten Ton, dass es ihm eiskalt den Rücken herunterlief. 

Als sie geendet hatte, sah sie schüchtern zu ihm, so als erwartete sie, von ihm verhöhnt zu werden. Was er natürlich niemals tun würde, denn ihre Geschichte war mehr als grausam. 

Möglichst weich erwiderte er ihren Blick und streckte zögernd die Hand nach ihrem Arm aus. Sanft drückte er ihren Unterarm, was ihr tatsächlich ein kleines Lächeln entlockte. 

„Danke Jayda. Aber die Zeit drängt. Bitte mach weiter, Hunter", unterbrach Amber wenig taktvoll den kleinen Moment der Vertrautheit und Zuneigung zwischen ihnen. Hunter räusperte sich, nahm seine Hand von Jaydas Arm und wandte den Blick ab.

Auf einmal fühlte er sich merkwürdig nervös und er spürte, wie seine Handflächen anfingen zu schwitzen. Er atmete tief durch, denn ihm wurde klar, dass nun kein Weg mehr an einem Geständnis vorbeiführte. Immerhin würde ihnen das ermöglichen, von hier zu fliehen, ohne dass Alastor auf ihn übersprang und ihn für immer hier gefangen hielt. Zumindest wenn man Ambers Worten glaubte. Aber auch er hatte Alastor gesehen, hatte seine unheimliche Präsenz gespürt. 

„Du schaffst das, Hunter. Ich bin bei dir und ich versichere dir, dass ich dich nicht verurteilen werde", sagte Jayda so ruhig und einfühlsam, dass ihre Worte ihn tatsächlich ermutigten. Noch einmal straffte er die Schultern und drückte den Rücken durch, bevor er für einen Moment in Ambers ausdrucksloses Gesicht sah. Sie war eindeutig nicht der Typ für einfühlsame Reden und Aufmunterungen, vermutlich weil sie schon zu lange hier in diesem Haus mit Alastor gefangen war. Allerdings war das auch ein Ansporn für ihn, durch ein Geständnis ein reines Herz zu bekommen und sie alle drei von diesem verfluchten Alastor und aus diesem Haus zu befreien.

Hunter keuchte und zitterte am ganzen Körper. Nicht nur wegen der Kälte, die sich durch seine Adern fraß, sondern auch aus Wut. Unendlicher Wut. 

Er hockte wie zu oft in den letzten Jahren im Keller seines Elternhauses. Es war nass und kalt und es roch muffig. Er saß zusammengekauert auf einer schmuddeligen Matratze, mit dem Rücken an die steinerne Wand gelehnt. Er wusste, was gleich passieren würde, auch wenn er erst zwölf Jahre alt war, wusste er es ganz genau. 

Heute war die dritte Session, wie sein Vater es nannte. Seine Mutter, die oben in der Küche sitzen würde, um seinem Vater und den anderen Männern etwas zu essen zu kochen, während hier unten um Keller Dinge passierten, die nicht passieren durften, verletzte ihn nur noch mehr. Durch ihr Nichtstun und ihr Hinnehmen, was mit ihrem Sohn passierte. 

Plötzlich hörte Hunter Schritte auf der Treppe, amüsiertes Lachen und sehnsuchtsvolles Stöhnen. Er wusste, was er nun zu tun hatte. Mühsam rutschte er an den Rand der Matratze und richtete sich auf. Vor ihm leuchtete die kleine rote Lampe der Kamera, die die Gräueltaten auch für die Nachwelt festhalten würde. 

Noch immer hörte er die Männer, die zu ihm nach unten in den Keller stiegen, so langsam, als wollten sie ihn nur noch mehr quälen. Als endlich die Kellertür aufging, verspürte Hunter den Impuls nach vorn zu schnellen und sie den Männern direkt vor der Nase zuzuschlagen. Er wollte das hier nicht, wer würde das schon wollen? 

Herein kamen sein Vater und drei weitere Männer, zwei davon waren auch beim letzten Mal schon dabei gewesen, einer war neu. Der Neue war ungewöhnlich dick, hatte ein ungepflegtes Äußeres und trug eine Brille. Unwillkürlich bedeckte Hunter seine Blöße, woraufhin sein Vater ihn bitterböse anfunkelte. 

„Gerald, das ist Hunter", verkündete sein Vater, als würde er eine prächtige Sau zum Verkauf und anschließender Schlachtung anpreisen. Gewissermaßen traf das ja auch zu. 

Hunter spürte, wie Gerald ihn von oben bis unten musterte, geifernd und begierig. Einer der Männer, der schon beim letzten Mal dabei gewesen war, kam auf ihn zu und stellte sich nur wenige Zentimeter vor ihm hin. Hunter war nur allzu bewusst, was der anschließende Griff zu seiner Hose bedeutete.

„Okay, ich denke, ihr wisst, auf was das hinausläuft. Mein Vater hat mich an diese Männer verkauft, sie durften mit mir anstellen, was auch immer sie wollten. Die Details erspare ich euch", sagte Hunter und schüttelte sich, um die Erinnerungen zu vertreiben. 

Aber er hatte davon berichten müssen, damit die Mädchen begriffen, warum er getan hatte, was er nun einmal getan hatte. Jayda stieß einen unbehaglichen Laut aus und er bemerkte, dass sie die Beine angezogen hatte und mit den Armen umklammerte. Sein Blick wanderte zu Amber, die vollkommen ungerührt dasaß und ihn ansah.

In dieser einen Nacht vor wenigen Wochen war es dann endlich so weit. Sein Vater machte mit Hunter immer weniger Profit, weil er zu alt wurde. Zumindest für den Geschmack seiner Freunde. Also beschloss er, dass er ihn für 10.000 Dollar an einen Mann als Sklaven verkaufen wollte. Der Deal stand und in dieser Nacht sollte er abgeholt werden. 

Er hatte ein paar seiner Habseligkeiten eingepackt und wartete also in seinem Zimmer darauf, dass sein gerade beendetes Martyrium durch ein neues abgelöst wurde. Immer und immer wieder versuchte Hunter sich zu sagen, dass der Mann ja vielleicht ganz nett war, ihn gut behandelte und vielleicht so etwas wie ein guter Freund wurde. Aber tief in dich drin wusste er, dass das nicht passieren würde. 

Sein Atem ging auf einmal stoßweise, denn sein Verstand hatte beschlossen, dass er das nicht mit sich machen lassen würde. Er wollte ein normales Leben führen, ein selbstbestimmtes, ohne Schmerz und Demütigung. 

Auf einmal fühlte Hunter sich, als würde ihm eine höhere Macht befehlen, was er zu tun hatte. Er dachte nicht darüber nach, er handelte einfach. Suchend blickte er sich in seinem Zimmer nach einer Waffe um, aber natürlich fand er nichts. Er schulterte seinen Rucksack, bereit für die Flucht nach seiner Tat und verließ sein Zimmer. 

Er hörte, dass unten der Fernseher lief. Seine Mutter schlief vermutlich, zumindest war die Tür des Schlafzimmers seiner Eltern geschlossen. Er ging ins Bad und öffnete den kleinen Schrank, in dem sie allerlei Hygieneartikel aufbewahrten. Hunter wusste nicht, wonach er eigentlich suchte, aber schließlich fand er eine Packung Rasierklingen. Er umklammerte sie, als seien sie sein größter Schatz und er als er die Treppe nach unten schlich, zog er eine glänzende Klinge aus der Verpackung.

Dann folgte ein gähnendes, schwarzes Loch. Zwar war Hunter bewusst, was er getan hatte, aber er war noch nicht bereit, sich an die Details zu erinnern. Glücklicherweise funktionierte sein Gehirn im Bereich des Selbstschutzes ziemlich gut. 

Seine nächste klare Erinnerung war, dass er rannte. Besudelt von Blut und in Panik, dass man ihn erwischte. Er hatte seinen Vater ermordet und war nun auf der Flucht. Und diese Flucht hatte bis zum heutigen Tag noch nicht geendet. 

AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt