Kapitel 23 - Jayda

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Jaydas Gedanken rasten, obwohl sie eigentlich gar nicht über all die Dinge nachdenken wollte, die allein heute bereits geschehen waren. Zum Glück hatte Hunter sich bei seinem Sturz nicht verletzt, aber diese Fratze die er beschrieb, bereitete ihr Kopfzerbrechen. 

Sie knabberte noch immer an ihrem kleinen Brötchen, während sie sich seine Beschreibung in Erinnerung rief. Er meinte, es sei etwas Wolfartiges gewesen, mit Borsten anstatt weichem Fell. Jayda schüttelte sich. Was hatte es nur damit auf sich? 

„Alles okay?", riss Hunter sie aus ihren Grübeleien und beinahe erschrocken sah sie auf. Ihre Blicke trafen sich sofort und Hunter legte ein schiefes Lächeln auf. Er saß ihr gegenüber auf seinem Sofa und wischte sich gerade die Krümel von den Händen. Jayda atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. 

„Ja, alles okay. Ich wüsste nur zu gern, was es mit diesem Ding auf sich hat, das du oben am Tor gesehen hast", antwortete sie und sah sofort den Anflug von Panik in Hunters Blick. Er hatte Angst, das war klar. 

„Es war vermutlich einfach nur eine Erscheinung, mit der uns jemand erschrecken wollte", sagte er, während er ein wenig unbehaglich auf seinem Platz hin und her rutschte. 

„Oder es ist der eigentlich Grund, warum wir hier noch wegkommen und warum auch Amber nicht von hier weg kann", überlegte sie weiter. Hunter stöhnte theatralisch auf. 

„So weit waren wir doch schon mit unseren Überlegungen", brummte er und ließ sich in die Kissen sinken und fing an, sich die Haare zu raufen. Jayda schluckte schwer, denn er hatte recht. So weit waren sie schon gewesen und sie wusste nicht, wie sie dieses ganze Wirrwarr lösen konnten. 

Jayda beobachtete ihn einen Moment lang, allerdings wollte ihr einfach nichts einfallen, das sie irgendwie weiterbrachte. Missmutig senkte sie den Blick auf ihren Schoß, bis sie auf einmal einen dumpfen Knall hörte. Erschrocken zuckte sie zusammen und sah sich panisch im Zimmer um. Hunter war aufgesprungen und sein Körper spannte sich sichtbar an. 

„Was war das?", rief Jayda aus und bemerkte erst da die Panik in ihrer Stimme. Plötzlich ertönte ein weiteres Geräusch, das weniger laut war als der erste Knall. Es war mehr ein Rascheln, so als würde Papier... 

„Da! Ein Buch!", rief Hunter aus und deutete mit dem ausgestreckten Finger in Richtung der Tür. Jayda spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Sicherlich schien ein Buch, das auf einmal auftauchte nicht gerade bedrohlich zu sein, aber allein die Tatsache, dass es urplötzlich da war, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. 

Zögernd sah sie zu Hunter, fragend und unsicher, was sie nun tun sollten, allerdings erwiderte er genau in diesem Moment ihren Blick mit dem gleichen Ausdruck. Ein oder zwei Sekunden lang sahen sie sich verunsichert an, bis Hunter die Schultern straffte und wagemutig das Kinn nach vorn reckte. 

„Sehen wir uns an, was Amber oder das Monster oder wer auch immer uns zeigen will", sagte er und trat einen Schritt vor. Jayda spürte, wie die Angst ihre Bewegungen lähmte. Zitternd atmete sie ein und aus. Es war nur ein Buch. Womöglich bekamen sie sogar einen Hinweis, wie sie hier herauskamen und wie sie vielleicht sogar Amber befreien konnten. 

Sie folgte Hunter, der langsam bis zum Buch ging, das mitten im Raum auf den Holzdielen lag, ziemlich genau in der Mitte aufgeschlagen. Als Jayda an ihm vorbei einen Blick auf die aufgeschlagenen Seiten warf, zuckte sie unwillkürlich zurück. Auch Hunter schien zu erschaudern, allerdings ging er in die Hocke und betrachtete die dort abgebildete Zeichnung genauer. Jayda wagte kaum, noch einen Blick darauf zu werfen, aber sie musste es tun. 

Auch sie kniete sich vor dem Buch auf den Boden und betrachtete das ungewöhnlich große, dicke und vor allem sehr alte Buch. Die Seiten wirkten, als seien sie aus Pergament, sie waren vergilbt und schienen bei der kleinsten Berührung zu Staub zu zerfallen. 

„Das ist die Fratze, die ich am Tor gesehen habe", hauchte Hunter und streckte die Hand aus, so als wollte er die Zeichnung berühren. Im letzten Moment zuckte er jedoch zurück und sah stattdessen zu Jayda. 

Die Zeichnung zeigte ein Wesen, das einem Menschen gar nicht so unähnlich war. Es stand aufrecht auf zwei Beinen und es wirkte, als würde es einen Berg hinaufsteigen. Sein muskulöser Körper wurde nur von einer Art Lendenschurz bedeckt. Allerdings hatte es einen ganz und gar nicht menschlichen Kopf, sondern er ähnelte in der Form an den eines Wolfes, mit riesigen Ohren und schrecklich geweiteten und starrenden Augen. Das Maul war leicht geöffnet und entblößte zwei Reihen spitzer Zähne. In dem Lendenschurz hing an der Seite eine Axt und in den Händen hielt das Wesen ein Messer und einen Dolch. 

Jayda bemerkte, wie ihr Atem stoßweise ging. Allein beim Anblick dieses Wesens, dieses Monsters, bekam sie eine Gänsehaut und die Vorstellung, dass dieses Ding hier irgendwo war, versetzte sie in Panik. 

„Was... was ist das?", stammelte sie und sah zu Hunter, der noch immer wie gebannt auf die Zeichnung sah. Jayda fühlte sich auf einmal noch unbehaglicher, als ohnehin schon. Beinahe so, als würde sie von etwas beobachtet werden. Eilig drängte sie dieses mit Sicherheit eingebildete Gefühl beiseite und sah auf die rechte aufgeschlagene Seite, auf der ein Text zu lesen war. Es fiel ihr schwer, die Buchstaben zu entziffern, denn die Schrift war alt und schon sehr verblichen. 

„Alastor", sagte Hunter auf einmal neben ihr, vollkommen emotionslos. Das war die Überschrift des kurzen Textes und unwillkürlich wanderte Jaydas Blick wieder zu der Zeichnung. Das war also Alastor? Ihr Blick huschte wieder zu Hunter, der auf einmal leichenblass geworden war. Erst da bemerkte sie, dass das Licht um sie herum schummrig geworden war, so als wäre das Tageslicht ausgesperrt worden. 

„Alastor", wiederholte sie langsam und kaum dass die Silben über ihre Lippen kamen, spürte sie einen unheimlichen Windhauch durch ihre Haare gehen. Sofort erzitterte sie und jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie endlich realisierte, dass sie hier vermutlich auf eine ziemlich heiße Spur gestoßen worden waren.

AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt