Beinahe albern kam Jayda sich im Nachhinein vor, dass sie auf so plumpe Weise versucht hatte, einen Geist dazu zu bringen, sich zu zeigen. Allerdings... was, wenn Amber gar kein Geist war, sondern etwas ganz anderes?
Ein Seufzen entfuhr ihr und im Augenwinkel sah sie, dass Hunter zu ihr herüber sah. Jayda lag auf ihrem Sofa auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und den Blick an die Decke gerichtet. Ein raschelndes Geräusch ließ sie den Blick jedoch zu Hunter wandern, der sich gerade auf die Seite legte, den Kopf auf der Hand abgestützt.
Er wirkte merkwürdig nachdenklich und irgendwie verletzlich. Sofort musste Jayda an seine Reaktion vorhin denken, als sie in dem Buch gelesen hatten. Er hatte beinahe ertappt gewirkt, so als hätte er tatsächlich ein Verbrechen begangen. Sie war unglaublich neugierig, gleichzeitig hatte sie Angst. Sie kannte Hunter nicht wirklich gut, obwohl sie schon eine ganze Weile jeden Tag miteinander verbrachten. War er womöglich auf der Flucht?
Erschrocken über ihre eignen Gedanken riss sie die Augen auf und starrte Hunter an. Sein blondes Haar und seine schmale Figur ließen ihn jungenhaft wirken, was es ziemlich schwer machte, sich ihn als einen Verbrecher vorzustellen. Plötzlich trafen sich ihre Blicke und Jayda hielt automatisiert den Atem an.
„Du fragst dich, warum ich den Alastor gesehen habe, stimmt's?", fragte Hunter mit tonloser, kratziger Stimme. Jayda spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Langsam nickte sie, setzte sich aber sogleich auf und sah ihn eindringlich an. Sie wollte nicht, dass sie sich stritten oder er sich von ihr angegriffen fühlte.
„Ich meine nur... ich bin neugierig, was das alles zu bedeuten hat und...", setzte sie an, konnte aber nicht verhindern, weiterhin die Verbindung zwischen dem Erscheinen des Alastors und einem Verbrechen zu ziehen. Hunter schien ihr Misstrauen zu spüren, denn auf einmal wurde sein Blick distanziert.
„Ich habe kein Verbrechen begangen!", rief er aus, so laut, dass Jayda zusammenzuckte.
„Das ist es doch, was du fragen wolltest", fügte er leiser hinzu und wandte den Blick ab. Jaydas Herz pochte auf einmal unangenehm, allerdings fand sie keinen Hinweis darauf, dass er log. Abgesehen davon schien Hunter der netteste und sanftmütigste Kerl zu sein, den sie kannte.
Plötzlich fiel ihr siedend heiß etwas ein. Als sie in der Badewanne gesessen und ihn gehört hatte... Ein Schauder überkam sie, denn auch wenn sie ihm geglaubt hatte, dass er keine anrüchigen Dinge getan hatte, machte sie diese ganze Sache mit Alastor skeptisch. Es musste doch einen Grund geben, warum er ihn gesehen hatte und nicht sie selbst. Oder? Vielleicht war das in dem Buch auch alles nur Aberglaube und ihre Fantasie spielte ihnen einen Streich.
„Entschuldige, ich...", stammelte sie, allerdings unterbrach Hunter sie.
„Schon gut."
Jayda biss sich auf die Lippe, denn auf einmal hatte sie ein schlechtes Gewissen. Was, wenn sie ihm Unrecht tat und all das hier nur vom Haus oder von Amber initiiert wurde, um sie zu entzweien und so angreifbarer zu machen? Jayda sah schüchtern zu Hunter, der auf einmal großes Interesse an seinen Fingern gefunden hatte und sie ausgiebig betrachtete. Vermutlich wäre es besser, wenn sie ihn für einen Moment lang in Ruhe ließ.
Sie schluckte schwer und ließ den Blick durch den Raum wandern. Das Feuer im Kamin war inzwischen erloschen, die Sonne warf lange, helle Strahlen an die Decke und bildete so ein verzerrtes Abbild der Fenster.
Auf einmal bemerkte sie, dass ihr Magen knurrte. Kein Wunder, sie hatte immerhin seit ihrem kargen Frühstück noch nichts gegessen. Mühsam erhob sie sich und ging zum Fußende von Hunters Sofa, wo er ihre Vorräte abgestellt hatte. Allerdings sah sie nur seinen noch gepackten Rucksack, ihr gebastelter Kranz baumelte auf dem Deckel. Erschrocken sah sie sich um, aber die Tüte mit ihrem Essen, die sie noch vor wenigen Stunden gesehen hatte, war verschwunden. Panisch sah sie Hunter an, der sie jedoch nicht beachtete.
„Hunter, wo sind unsere Vorräte?", fragte sie, einen leichten Anflug von Panik in ihrer Stimme. Hunter seufzte, hob jedoch den Blick und sah sie an.
„Na da vorn, neben meinem Rucksack. Da habe ich sie abgestellt", sagte er und deutete genau auf die Stelle, an der sie stand. Noch einmal sah Jayda sich suchend um, ging in die Hocke, um unter dem Sofa nachzusehen, aber die Tüte war nirgends zu entdecken. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte auf Hunter sich aufgesetzt.
„Sie... sie ist hier nicht", sagte sie und ließ den Blick noch einmal durch das Zimmer wandern, als könnte sie sie so heraufbeschwören. Auch Hunter sah sich um, beugte sich vornüber, um unter dem Sofa nachzusehen und stand schließlich auf. Mit in die Hüften gestemmten Händen kam er zu ihr und schob seinen Rucksack ein Stück beiseite. Die Tüte mit ihren Vorräten war nicht mehr hier.
Langsam sah sie zu Hunter, in der Erwartung, dass er eine Lösung parat hatte, aber er wirkte genau so überfragt wie sie selbst. Plötzlich ertönte ein leises Quietschen, das Jayda so erschrocken herumfahren ließ, dass sie einen stechenden Schmerz im Nacken spürte. Auch Hunter riss den Blick herum und sog scharf die Luft ein.
Allerdings sah Jayda schnell, was genau das Geräusch verursacht hatte. Es war die Wohnzimmertür, die langsam und quietschend aufgegangen war. Aber es war niemand zu sehen, der sie geöffnet haben könnte. Jayda bekam Panik. Was, wenn sie gleich wieder diesem Monstrum begegnen würden?
Unwillkürlich griff sie nach Hunters Arm und klammerte sich an ihm fest. Langsam ging er auf die Tür zu und notgedrungen folgte sie ihm. Kaum dass sie in den Flur traten, ertönte erneut ein Quietschen und vor ihren Augen öffnete sich wie von Geisterhand die Küchentür. Jayda bemerkte, dass Hunter sich anspannte.
„Scheint, als sollen wir das Essen in der Küche essen", sagte er leise. Jayda überkam ein ungutes Gefühl. Immerhin wussten sie nicht, ob das Essen wirklich genießbar war. Denn es war offensichtlich aus dem Nichts aufgetaucht und schien auch in keiner Weise schlecht zu werden. Es duftete noch genau so verlockend wie vor Stunden und sie glaubte, einen leichten Dampf wahrzunehmen, der von dem Laib Brot ausging. Hunter trat näher an den reichlich gedeckten Tisch heran und zog sie hinter sich her.
„Nun, da wir früher oder später ohnehin das essen müssen, was das Haus uns anbietet, könnten wir es auch jetzt probieren", sagte er schulterzuckend und sah fragend zu ihr. Jayda zuckte zusammen. Sie war noch immer unentschlossen, ob das wirklich eine gute Idee war, aber was sollten sie tun, wenn ihre Vorräte verschwunden oder irgendwann aufgebraucht waren und sie nicht zum nächsten Supermarkt kamen?
„Ich meine... was haben wir denn schon zu verlieren? Offensichtlich will etwas hier, dass wir das Geheimnis lüften", sagte er und sah gierig zu dem Laib Brot. Jayda überlegte. Er hatte schon irgendwie recht. Jemand hatte ihnen das Buch gezeigt, damit sie wussten, dass hier auch ein Alastor sein Unwesen trieb. Jayda kam nicht umhin zu glauben, dass es Amber war, die ihnen helfen wollte. Oder dass sie dadurch wollte, dass sie ihr halfen, aus diesem Haus zu entkommen.
Jayda entfuhr ein Seufzen, denn ihr wurde klar, dass Hunter recht hatte. Vielleicht würden sie ein oder zwei Tage ohne Essen auskommen, aber dann würden sie ganz sicher schwach werden.
„Vielleicht... vielleicht stimmt es Amber milde und sie zeigt sich uns heute Nacht", hauchte Hunter leise, nahm anschließend den Laib Brot in die Hand und riss ein Stück davon ab. Sofort stieg Jayda der verführerische Duft in die Nase und sie wusste in diesem Moment, dass sie dem Verlangen nach diesen köstlichen Speisen nicht widerstehen konnte. Genüsslich biss Hunter hinein, schloss die Augen und seufzte.
„Wenn du willst, bin ich der Vorkoster. Aber das hier", sagte er und riss ein weiteres Stück Brot ab, „schmeckt fantastisch!"
Er hielt ihr das Brot hin und gierig nahm sie es. Kaum dass sie es in den Mund schob, wusste sie, dass das hier nur von jemanden kommen konnte, der ihnen wohlgesonnen war. Zumindest war das ihre Hoffnung, von der sie in diesem Moment wieder ein klein wenig mehr hatte.
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Amber
HorrorJayda und Hunter, zwei siebzehnjährige Ausreißer, finden Zuflucht in einem verlassenen Herrenhaus. Blackwood Manor, ein im Wald gelegenes, beeindruckendes Anwesen ohne Strom und Wasser wird bald ihr Zufluchtsort. Allerdings dauert es nicht lange, bi...