„Hunter, wach auf."
Blinzelnd öffnete Hunter die Augen und bemerkte Jaydas lächelndes Gesicht vor dem seinen. Offensichtlich hatte sie ihn geweckt. Es dauerte einen kurzen Moment, bis er begriff, dass er wahrhaftig eingeschlafen war und das sogar ziemlich schnell. Augenblicklich wurde er panisch. Wie lange hatte er geschlafen? Hektisch strampelte er den Schlafsack von sich und setzte sich auf. Jayda wich erschrocken zurück, setzte aber sogleich wieder ein Lächeln auf.
„Keine Sorge, wir haben noch genug Zeit", sagte sie, als könnte sie seine Gedanken lesen.
„Es ist sieben Uhr, wir haben noch fünf Stunden Zeit, uns einen Plan zu überlegen", fuhr sie fort und Hunter bemerkte, wie ihr Blick zum Kamin wanderte. Er folgte ihren Blick und erkannte Amber, die regungslos davor saß und ins Feuer blickte.
„Sie scheint lieber für sich allein eine Lösung finden zu wollen", flüsterte Jayda ihm zu, was Hunter merkwürdig wütend werden ließ. Immerhin ging es hier auch um ihn, denn er war es, auf den Alastor es abgesehen hatte.
Eindringlich sah er Jayda an, die sich genau in diesem Moment verlegen ihr braunes Haar hinters Ohr strich. Als sie ihren Blick erwiderte, wusste er auch ohne Worte, dass sie sich ebenfalls nicht auf Amber verlassen wollte.
„Zu zweit werdet ihr es nicht schaffen", sagte auf einmal Amber, die offensichtlich Augen im Hinterkopf hatte. Sie erhob sich und kam in einer sanften, beinahe schwebenden Bewegung auf sie zu. Sie hatte ihre Hände wie üblich vor ihrem Bauch zusammengelegt.
Hunter spürte, dass er nervös wurde, denn Amber war offensichtlich auch in irgendeiner Weise übersinnlich begabt. Jayda, die neben dem Sofa hockte, sank noch mehr in sich zusammen, so als hätte sie Angst vor Amber. Ohne lange darüber nachzudenken legte Hunter seine Hand auf ihren Arm, um ihr zu zeigen, dass er zu ihr halten würde und sie beschützte.
„Wir müssen das zu dritt durchziehen. Und drei gleichzeitig in Schach zu halten wird vermutlich selbst für ihn schwierig", sagte Amber und ließ sich nun vor dem Sofa neben Jayda auf dem Boden nieder. Für einen Moment senkte sie den Blick auf ihren Schoß und seufzte.
„Das Problem ist, dass wir nicht wissen, was er tun wird, um uns davon abzuhalten, in den Keller zu gehen. Er kann einen Dinge sehen lassen, die nicht da sind oder er greift uns körperlich an. Er hat jede Menge Tricks auf Lager", erklärte Amber und klang dabei ganz und gar nicht, als würde sie über einen Dämon reden, von dem Hunter bis vor Kurzem noch nicht einmal im Traum gedacht hätte, dass so etwas überhaupt existierte.
Auf einmal bemerkte Hunter im Augenwinkel eine Bewegung und als er den Kopf zu Jayda herumdrehte sah er, dass sie zaghaft den Finger hob, so als würde sie sich im Schulunterricht melden. Auch Ambers Blick legte sich auf sie.
„Du bist ja schon eine Weile mit ihm hier", setzte sie an, wurde aber von einem verächtlichen Schnauben von Amber unterbrochen. Dennoch fuhr Jayda unbeirrt fort: „Welche Tricks hat er denn bei dir bereits benutzt? Dann könnten wir uns zumindest ein wenig darauf vorbereiten."
Hunter nickte zustimmend und nun wanderten zwei Augenpaare auf Amber, die auf einmal klein und eingeschüchtert aussah. Hunter konnte nicht anders, als zu grinsen. Amber war so kühl und irgendwie merkwürdig, dass es ihm Freude bereitete, sie unbehaglich zu sehen. Unruhig rutschte sie hin und her, räusperte sich schließlich aber und hob die Stimme.
„Ich denke, es ist unterschiedlich, was er einem antut. Je nach dem, was für sein Opfer am schlimmsten ist. Er lässt mich immer und immer wieder den Todestag von Rachel erleben. Mein schlechtes Gewissen erdrückt mich. Mit der Zeit habe ich gelernt, meine Emotionen zu unterdrücken und es nicht mehr so sehr an mich heranzulassen. Da hat er sich darauf verlegt, Menschen ins Haus zu locken und mich ihnen Dinge antun zu lassen. Sie zu erschrecken, genau so, wie ich es mit euch getan habe", berichtete Amber überraschend ausführlich.
Hunter lauschte gespannt und versuchte sich über seine Schwachstelle klarzuwerden. Allerdings war das ziemlich leicht. Es war die Angst davor, den Rest seines Lebens wegen seinem Vater im Gefängnis zu verbringen. Oder vielleicht doch die Angst, dass der Mann, der ihn als Sklaven kaufen wollte fand und mit sich nahm. Beides waren schreckliche Vorstellungen und es schüttelte ihn, wenn er zu lange darüber nachdachte. Allerdings wurde ihm klar, dass Alastor vermutlich genau das ausnutzen würde. Oder er tat Jayda etwas an, denn das würde ihm genau so sehr zusetzen. Seufzend gab er auf, eine eindeutige Schwachstelle zu finden, die Alastor nutzen konnte. Es gab einfach zu viele.
„Aber du weißt, wann du in einer Vision bist, die von ihm ausgelöst wird?", fragte Jayda und holte Hunter vollständig zurück ins Hier und Jetzt. Er musterte Amber eindringlich.
„Ja, natürlich. Es ist mir immer vollkommen klar, dass er mich diese Dinge nur in meinem Geist sehen lässt, auch wenn sie sich sehr real anfühlen. Ich weiß, dass es nicht real ist und doch kann ich mich nicht dagegen wehren", antwortete sie und komischerweise klang sie in diesem Moment vollkommen aufrichtig. Jayda nickte.
„Das heißt, wir sind schon einmal darauf vorbereitet, dass er uns möglicherweise in unsere schlimmsten Alpträume versetzen könnte. Du sagtest, dass er uns auch körperlich angreifen kann", fuhr Jayda fort und Hunter konnte nicht anders, als sie anerkennend anzusehen. Sie war anscheinend diejenige von ihnen, die einen kühlen Kopf bewahrte und sich die meisten Gedanken um einen Plan machte. Amber nickte.
„Ja, er kann uns Verletzungen zufügen. Vermutlich kann er uns auch töten, aber offensichtlich hat er es bei mir bisher nicht versucht. Was auch nur logisch ist, denn ohne einen Menschen, an den er gebunden ist, kann er in dieser Welt nicht existieren", sagte sie. Hunter spürte, wie sich die kleinen Rädchen in seinem Hirn in Bewegung setzten.
„Du meinst, dass er womöglich verbannt werden würde, wenn er niemanden mehr hat, auf den er überspringen kann?", fragte er nach, woraufhin Amber beinahe erschrocken die Augen aufriss, so als hätte sie darüber noch nie nachgedacht. Langsam legte sie einen Finger ans Kinn.
„Das wäre eine Möglichkeit", sagte sie zögerlich. Allerdings sog Jayda erschrocken die Luft ein.
„Du meinst, wenn wir uns alle umbringen, wird er verschwinden?", fragte sie entsetzt. Amber sah genau so geschockt aus, wie Hunter sich fühlte.
„Wenn du Todessehnsucht hast, bitte. Aber ich möchte nicht sterben", sagte Amber sarkastisch und schüttelte den Kopf.
„Nein, wir müssen uns irgendwie davor schützen, dass er auf einen von uns überspringen kann, sobald er sich von mir gelöst hat", überlegte sie weiter. Hunter schluckte, denn ihm wurde klar, dass er derjenige war, auf den Alastor überspringen wollte. Sicherlich gab es nur ein minimales Zeitfenster, in dem er von Amber gelöst war und dieses mussten sie erkennen und nutzen. Aber wie?
„Ich weiß, dass diese Kette irgendetwas damit zu tun hat, aber ich komme einfach nicht dahinter, was es ist. Wie sie dazu beitragen kann, ihn zu verbannen", seufzte Amber, erhob sich und ging wieder zum Kamin, wo sie sich wieder auf dem Boden niederließ. Hunter sah fragend zu Jayda, die genau in diesem Moment seinen Blick erwiderte.
„Vielleicht gibt die Kette irgendeinen Hinweis, was zu tun ist", sagte sie schulterzuckend, klang aber nicht wirklich zuversichtlich. Hunter nickte, denn was hatten sie noch für eine Wahl, als das alles auf sie zukommen zu lassen?
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Amber
HorrorJayda und Hunter, zwei siebzehnjährige Ausreißer, finden Zuflucht in einem verlassenen Herrenhaus. Blackwood Manor, ein im Wald gelegenes, beeindruckendes Anwesen ohne Strom und Wasser wird bald ihr Zufluchtsort. Allerdings dauert es nicht lange, bi...