Etwas außer Atem gelangten sie schließlich zu der Tür, hinter der sich die Bibliothek verbarg. Sie war geschlossen und komischerweise verspürte Jayda eine Nervosität, die sie eben noch nicht bemerkt hatte. Kopfschüttelnd versuchte sie dieses Gefühl zu vertreiben und sah zu Hunter, der unschlüssig neben ihr stand. Ihr Blick wanderte von ihm zur Türklinke und ergeben nickte er.
„Wir waren ja schon hier drin, was soll also groß passieren?", sagte er, allerdings war die Angst in seiner Stimme kaum zu überhören. Jayda stutzte. Komischerweise fühlte sie sich kaum noch ängstlich, beinahe war es so, als hätte Amber ihr diese Angst genommen und ihr auf irgendeine Art und Weise die Sicherheit gegeben, dass es richtig war, was sie hier tat.
Bei Hunter schien es anders zu sein, er wirkte gar nicht mehr so mutig wie bisher. Vielleicht hatte er eingesehen, dass hier wirklich übernatürliche Kräfte am Werk waren und er war noch nicht bereit, tatsächlich daran zu glauben.
„Gut", stammelte Hunter, mehr zu sich selbst als zu ihr und legte anschließend die Hand auf die Klinke. Als er sie herunterdrückte, öffnete sich die Tür mit einem unheilvollen Quietschen. Jayda lugte über seine Schulter in das Zimmer, das jedoch noch genau so aussah, wie sie es in Erinnerung hatte. Der große runde Tisch, die Regelreihen, der leichte Geruch nach Staub und Papier, der alten Büchern immer anhaftete. Hunter betrat die Bibliothek und Jayda folgte ihm.
„Wonach genau suchen wir?", fragte er, während er den Blick durch den Raum schweifen ließ.
„Gute Frage. Vielleicht finden wir irgendetwas zu Spukerscheinungen", erwiderte sie und ging in die erste Regalreihe auf der linken Seite des Raumes. Hunter grummelte noch etwas Unverständliches, begab sich dann aber in eine andere Regelreihe.
Jayda trat näher an die Bücher heran und ließ den Blick über die dicken und meist sehr alt wirkenden Einbände gleiten. Auf den Büchern lag eine dünne Staubschicht, als wäre hier schon seit einiger Zeit niemand mehr gewesen. „Hexenverbrennungen", „Wie erkenne ich eine Hexe?", „Hexen und ihre Täuschungen" las sie. Offensichtlich war sie hier in dem Regal mit den Büchern über Hexen gelandet.
Sie ging einige Schritte weiter, näher ans Fenster und las ebenfalls noch einmal die Titel der Bücher, die hier standen. „Dämonologie I", „Erkennungsmerkmale einer Besessenheit" und „Exorzismen der Geschichte" waren hier zu finden.
Jayda seufzte. Womöglich war jedes dieser Bücher hier interessant, da sie ja noch nicht wirklich wussten, wer oder was Amber war.
„Schon was gefunden?", hörte sie Hunter rufen.
„Nein, nicht wirklich. Hier sind die Bücher über Hexen und Dämonen", antwortete sie, wandte sich um und betrachtete die nächste Regelreihe.
„Hier ist eine Sammlung über Geister. Meinst du, Amber ist ein Geist?", fragte er und sofort eilte Jayda zu Hunter. Zwar wusste sie nicht genau, ob Amber wirklich ein Geist war, aber das schien ihr die logischste Erklärung.
Hunter hielt ein aufgeschlagenes Buch in den Armen und sah merkwürdig ausdruckslos zu ihr, als sie neben ihn trat. Jayda warf einen Blick in das Buch und überflog das Inhaltsverzeichnis. Die Seiten des Buches waren alt und vergilbt, beinahe pergamentartig und die verschnörkelte Schrift wirkte wie aus einer anderen Zeit.
„Wie bringe ich einen Geist dazu, sich zu zeigen?", las Jayda vor. Hunter sog scharf die Luft ein. Jayda hob den Blick und fand sofort den seinen. Er hatte Angst, das sah sie allein an seinem Blick.
„Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist? Was, wenn Amber böse ist und uns schaden will?", fragte er mit zitternder Stimme. Jayda überlegte. Ja, Amber hatte ihnen eine gehörige Angst eingejagt, aber sie hatte sie niemals verletzt. Keine Dinge auf sie fallen lassen oder so etwas. Eigentlich konnte sie nicht so recht sagen, woher ihre Gewissheit kam, dass Amber nicht böse war, aber es wir ein merkwürdiges Gefühl in ihr drin, das ihr sagte, dass sie recht hatte.
„Ich weiß es irgendwie. Wäre sie böse, hätte sie viel schrecklichere Dinge geschehen lassen. Sie hat nur auf sich aufmerksam gemacht", erklärte sie, allerdings zog Hunter skeptisch eine Augenbraue hoch.
„Sie hält uns hier gefangen", sagte er monoton, allerdings glaubte Jayda nicht, dass das wirklich Amber war.
„Ich glaube, es ist das Haus. Oder irgendeine andere Kraft. Amber ist genau wie wir hier gefangen, nur scheint sie schon sehr viel länger hier zu sein", schlussfolgerte sie, auch wenn sie keinerlei Beweise für ihre Annahmen hatte. Ergeben seufzte Hunter und blätterte bis zu dem Kapitel „Wie bringe ich einen Geist dazu, sich zu zeigen?".
„Setzen wir uns an den Tisch", sagte er und ging, das aufgeschlagene Buch noch immer auf den Armen, zum runden Tisch. Er setzte sich auf einen der Stühle und Jayda ließ sich neben ihm nieder. Mit einem dumpfen Geräusch ließ er das Buch auf den Tisch plumpsen. Jaydas Blick richtete sich sofort auf die Zeilen.
„Wie bringe ich einen Geist dazu, sich zu zeigen?
Diese Frage beschäftigt viele Menschen, die glauben, in ihrem Haus lebe ein Geist. Viele dieser Menschen erliegen den Auswüchsen ihrer Fantasie, aber in manchen Fällen gibt es tatsächlich einen Geist, der sein sprichwörtliches Unwesen treibt.
Oft fürchten sich die Menschen vor Geistern, weil sie die von ihnen ausgelösten Erscheinungen meist ängstigen. Sie wollen Geister loswerden und versuchen mit hanebüchenen Methoden, dieses Ziel zu erreichen. Allerdings ist dieses Unterfangen sinnlos, wenn man nicht wirklich weiß, mit wem oder was man es zu tun hat.
Lebt beispielsweise der Geist eines Kindes in einem Haus, kann es schwerwiegende Folgen für dieses Kind haben, wenn es aus seinem Zufluchtsort vertrieben wird. Es stolpert durch die Zwischenwelt, in der Geister sich für gewöhnlich aufhalten und kann nicht in seine gewohnte Umgebung zurück. Gerade für Kinder ist es tragisch, da sie sich in der weiten Zwischenwelt, in der auch allerlei böse Geister ihr Unwesen treiben, nicht zurechtfinden.
Wichtig ist also, erst einmal herauszufinden, womit man es zu tun hat. Erste Hinweise darauf sind die „Spukerscheinungen", die durch den Geist verursacht werden. Sind sie harmloser Natur, werden etwas Gegenstände verschoben oder Türen geöffnet, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Geist den Menschen nichts Böses will. Zielen diese Erscheinungen jedoch darauf ab, Menschen zu verletzen, ist dies ein Hinweis darauf, dass dieser Geist auf Rache aus ist.
Sofern der Geist dazu gebracht werden soll, sich zu zeigen, ist es am besten, ihn direkt anzusprechen. Freundlichkeit ist hier besonders wichtig. Allerdings ist es nur möglich, einen Geist zu sehen, wenn dieser es auch möchte. Zeigen Sie ihm, dass Sie ihm helfen und ihn nicht vertreiben wollen."
Jayda sah fragend zu Hunter, denn der Text setzte sich auf der nächsten Seite fort. Dieser schnaubte verächtlich.
„Das ist doch ausgemachter Blödsinn!", rief er aus, schlug das Buch zu und verschränkte die Arme vor der Brust. Jayda war da anderer Meinung. Vielleicht war dieses Buch eher ein amateurhafter Ratgeber, aber im Großen und Ganzen glaubte sie, dass ein wahrer Kern darin steckte.
„Okay, suchen wir nach einem anderen Buch", sagte sie und erhob sich. Hunter grummelte missmutig vor sich hin, folgte ihr aber.
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Amber
HorrorJayda und Hunter, zwei siebzehnjährige Ausreißer, finden Zuflucht in einem verlassenen Herrenhaus. Blackwood Manor, ein im Wald gelegenes, beeindruckendes Anwesen ohne Strom und Wasser wird bald ihr Zufluchtsort. Allerdings dauert es nicht lange, bi...