Kapitel 33 - Jayda

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Jayda fühlte sich merkwürdig. Irgendwie machte diese ganze Sache, die Amber ihnen erzählt hatte Sinn und gleichzeitig auch nicht. 

Zwei Augenpaare ruhten auf ihr und sie wusste, dass sie gleich erzählen musste, was ihr zugestoßen war. Allerdings hatte sie niemanden umgebracht, sie war einfach davongelaufen. Sicherlich war ihre Geschichte vollkommen harmlos im Vergleich zu denen der anderen beiden. 

Plötzlich fiel ihr etwas ein, das sie noch unbedingt fragen musste. 

„Amber, woher weißt du das alles eigentlich? Ich meine... diese Kette und was man alles tun muss, um ihn zu verbannen?", fragte sie. Amber wirkte noch immer vollkommen ruhig, was sie tatsächlich ziemlich nervös machte. 

„Ich bin hier seit dreiundfünfzig Jahren und es gibt oben eine hervorragende Bibliothek. Zwar macht Alastor es einem nicht leicht, da er verhindern will, dass man etwas über ihn herausfindet, aber ich hatte sehr viel Zeit und habe eigene Kräfte entwickelt, um ihn ein wenig in Schach zu halten", antwortete sie. Jayda nickte und sah im Augenwinkel, dass auch Hunter sich ein wenig bewegte. Ihm fiel es offensichtlich noch schwer, Amber zu glauben, aber Jayda tat es. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Amber sie anlog. Sie hätte auch einfach weiterhin ihren Spuk mit ihnen treiben können. 

„Ich habe auch noch eine Frage, Amber. Warum willst du verhindern, dass Alastor einfach auf mich überspringt? Es könnte dir doch egal sein, du wärst dann frei", wollte er wissen und Jayda hörte ganz eindeutig Misstrauen in seiner Stimme. Amber räusperte sich leise, bevor sie Hunter direkt in die Augen sah. 

„Auch wenn ich einen Mord begangen habe, bin ich kein schlechter Mensch. Ich war noch ein Kind, als es geschah. Ich will dich nicht dem Leid aussetzen, welches ich durchleben musste. Außerdem will ich, dass dieses Haus von diesem Dämon befreit ist. Es ist das Haus meiner Familie und er gehört hier nicht her", sagte sie und so wie sie es erklärte, klang es logisch. Auch Hunter schien das einzusehen, denn er nickte und wandte sich wieder Jayda zu. Sie senkte für einen Moment den Kopf und sammelte sich, bevor sie anfing, ihre Geschichte zu erzählen.

Jayda war sieben Jahre alt, als sie das erste Mal eine schlechte Note mit nach Hause brachte. 

Schon den ganzen Rückweg von der Schule hatte sie nachdenklich und voller Angst im Schulbus gesessen. Denn sie wusste nur zu gut, was ihr bevorstand. Erst vor wenigen Tagen hatte ihre Schwester Jenna ebenfalls eine schlechte Note in einem Test gehabt. Jenna war zwei Jahre älter als sie und eigentlich sehr gut in der Schule. Nur wie sie selbst auch, war sie durch das ganze Chaos zu Hause ablenkt gewesen und hatte sich gar nicht aufs Lernen konzentrieren können. 

Unwillkürlich musste sie an ihre Eltern denken, die sich in den letzten Wochen nur noch anschrien. Entweder wussten sie nicht, dass Jayda und Jenna alles mitbekamen oder es war ihnen einfach egal. Aber dieses Gefühl der Angst, wenn unten im Wohnzimmer herumgeschrien wurde und Gegenstände kaputt gemacht wurden, lähmte Jayda. 

Sie hatte sich bei dem letzten Streit ihrer Eltern zusammen mit Jenna im Schrank versteckt, bis es vorbei war. Und nun hatte auch sie eine schlechte Note in einem Test und ihr Vater würde wieder wütend werden. Heute Abend würden ihre Eltern sich wieder anschreien, ihr Geschirr würde noch weniger werden und das war ganz allein ihre Schuld. 

„Jayda, du musst aussteigen", lachte ihre Freundin Stacy neben ihr und stieß sie am Arm an. Erst als Jayda sich umsah, bemerkte sie, dass Stacy recht hatte. Eilig griff sie nach ihrem Ranzen und ihrer Lunchbox, die zwischen ihren Füßen auf dem Boden standen und hetzte in Richtung Bustür. 

Sie hüpfte die Stufen nach unten auf den Gehweg und blieb wie angewurzelt stehen. Sie blickte den schnurgeraden Weg entlang, der zu ihrem Haus führte. Es war eigentlich ein hübsches Haus mit einem weißen Anstrich und einer schönen Veranda. Nur im Innern herrschte das Grauen. 

Ihre Füße setzten sich in Bewegung, aber es fühlte sich an, als wären ihre Beine aus Wackelpudding. Ihren Ranzen schwang sie sich über die Schulter, allerdings fühlte er sich unglaublich schwer an, so als würde der Test mit der schlechten Note an ihr ziehen und zerren. 

Als sie ungefähr auf der Hälfte des Weges angelangt war, erkannte sie ihren Vater, der ihr die Tür öffnete. Er hatte in der letzten Zeit einen dicken Bauch und eine rote Nase bekommen und er roch oft unangenehm, so als würde er sich mehrere Tage lang nicht waschen. Sein Bart wucherte unkontrolliert und sein weißes Unterhemd, das er zu einer grauen Jogginghose trug, war schmutzig. In seiner Hand hielt er eine Bierflasche. 

„Beeil dich schon, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!", lallte er und sofort beschleunigte Jayda ihre Schritte. Schon als sie die Veranda betrat, roch sie den unangenehmen Geruch, der von ihrem Vater ausging. 

Er trat gerade so viel zur Seite, dass sie sich an ihm vorbei ins Haus quetschen konnte. Sie hörte, wie im Wohnzimmer der Fernseher lief, ansonsten war es still. Ihre Mutter war noch auf der Arbeit, sie arbeitete viel mehr, seit ihr Vater seine Arbeit verloren hatte. Mit einem Krachen fiel die Tür ins Schloss und ihr Vater riss ihr den Ranzen vom Rücken. Jayda wusste, was nun geschah, denn seit Jenna einmal eine schlechte Note verheimlichen wollte, kontrollierte ihr Vater jeden Tag ihren Ranzen. 

Jayda senkte den Blick auf den Boden, voller Angst. Fahrig riss ihr Vater ihre Hefte heraus, bis er den Test fand. Einige Sekunden lang starrte er auf das Blatt, als würde er nicht wissen, was er da vor sich hatte, bis sich sein Gesicht zu einer wütenden Fratze verzog. Schon jetzt spürte Jayda, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. 

„Jayda? Was ist das?", fragte ihr Vater vollkommen ruhig, gleichzeitig schwang unendlich viel Bedrohung in seinen Worten mit. Jayda schaffte es nicht, ihm zu antworten. Sie schaffte es noch nicht einmal, ihn anzusehen. Mit einem lauten Klirren warf ihr Vater die Bierflasche nur knapp an ihr vorbei an die Wand. Sie zuckte heftig zusammen und ihr entfuhr ein kleiner Schrei. Der Test flatterte ihr langsam vor die Füße, wo er vorwurfsvoll auf dem Boden liegenblieb. Sie spürte, wie ihr Vater ihr einen Finger unters Kinn legte und sie so zwang, ihn anzusehen. Am liebsten hätte sie die Augen verschlossen, aber die wagte es nicht, sich auch nur zu rühren. 

Auch wenn Jenna ihr berichtete hatte, wie sehr es wehtat, war sie von dem Schmerz in ihrer Wange überwältigt. Ihr Kopf flog zur Seite und sie strauchelte. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich am Küchentisch festzuhalten und nicht hinzufallen. Ihr Vater sagte keinen Ton, er schrie sie nicht an oder schimpfte mit ihr, das würde er sich für ihre Mutter aufheben. 

Langsam richtete Jayda sich wieder auf und hob zögernd den Blick, als sie einen zweiten Schlag ins Gesicht abbekam. Dieses Mal konnte sie sich nicht mehr abfangen und sie fiel auf den harten Boden. Sie krümmte sich zusammen und weinte. Glücklicherweise ließ ihr Vater von ihr ab, holte sich ein neues Bier auf dem Kühlschrank und setzte sich auf das Sofa, wo er weiter fernsah. 

Jayda wagte es eine ganze Weile nicht, sich wieder aufzurappeln, aus Angst, ihr Vater würde wieder wütend auf sie werden. Erst als er leise schnarchte, kroch sie auf allen Vieren in ihr Zimmer und versteckte sich unter ihrem Bett. 

An diesem Tag begann ihr Martyrium. Sie brauchte keine schlechten Noten mehr, damit ihr Vater wütend wurde, es reichte ein falscher Blick oder ein zu lautes Geräusch. Etwas allerdings veränderte sich. Während ihr Vater herumschrie, versteckte sie sich nicht mehr nur mit Jenna im Schrank, sondern auch ihre Mutter war bei ihnen. Sie hatte im Schrank heimlich einen Riegel von innen angebracht und einen Verbandskasten deponiert. Allerdings wusste Jayda, dass ihr Vater in seiner Wut womöglich den ganzen Schrank zerstören würde und der Riegel keinerlei Wirkung hatte, aber er gab ihr ein trügerisches Gefühl der Sicherheit. 

Zehn Jahre lang ging das so. Alle schienen zu wissen, was bei ihnen zu Hause los war - Wie hätten sie es auch nicht bei all den blauen Flecken und Verletzungen? - aber niemand sagte oder tat etwas. Sie schienen zu glauben, dass es nicht geschah, wenn sie wegsahen. 

Aber es wurde immer schlimmer, die Schläge häufiger und die Angst größer. Bis zu jenem Tag, an dem Jayda die Chance ergriffen hatte und davongelaufen war. Sie hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, dass sie Jenna und ihre Mutter allein gelassen hatte, aber sie hatte einfach keinen anderen Ausweg gesehen. Und nun war sie hier, in einem Spukhaus, das von einem Dämon heimgesucht wurde. 

AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt