Kapitel 2 - Hunter

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Inzwischen war es dunkel und Hunter knipste die Taschenlampe an, die er aus dem Seitenfach seines Rucksacks zog. Äste und Laub knirschten unter seinen Füßen, gleichzeitig wurden seine Schritte vom weichen Waldboden abgefedert. 

Jayda, ein zierliches, braunhaariges Mädchen, ging neben ihm. Obwohl sie gleich alt waren, hatte sein Beschützerinstinkt sich sofort gemeldet, als er sie vor ein paar Tagen am Straßenrand aufgelesen hatte. Schon in dem Augenblick, als er sie sah, hatte er gespürt, dass sie genau wie er ein Ausreißer war. 

Plötzlich blitzten unangenehme Bilder vor seinem inneren Auge auf, die ihn geradezu gezwungen hatten, sein Elternhaus zu verlassen. Kopfschüttelnd verdrängte er den Gedanken und richtete den Blick wieder nach vorn. 

Der Lichtkegel der Taschenlampe hüpfte vor ihnen auf und ab, glitt über Baumstämme und Dickicht. Erst da bemerkte er Jaydas keuchenden Atem. 

„Bist du okay?", fragte er und betrachtete sie im schwachen Licht. Ihre Wangen waren gerötet und ihr Mund war beinahe zu einer Fratze verzerrt, so heftig atmete sie. Sofort blieb Hunter stehen und griff nach ihrem Arm. 

„Hey, setz dich mal einen Moment", sagte er beunruhigt, denn irgendetwas war mit Jayda ganz und gar nicht in Ordnung. Er hörte ein hohes, verzweifeltes Schluchzen, das sich aus ihrer Kehle Bahn brach. Er packte Jayda an beiden Schultern, sodass der Lichtkegel hinter sie im Dickicht verschwand und sah sie eindringlich an. Wie so oft hielt sie den Blick von ihm abgewandt, als befürchtete sie, er würde ihr etwas Böses tun wollen. 

„Jayda", sagte er tonlos, spürte aber gleichzeitig die aufkommende Verzweiflung in sich. Dieses Mädchen war noch immer ein Rätsel für ihn. Sie redete kaum, hatte sich ihm aber ohne zu zögern angeschlossen. Also schien sie ihm irgendwie zu vertrauen. Oder sie ergab sich ihrem Schicksal, dass er möglicherweise ein Mörder war. Was natürlich Quatsch war, es könnte noch nicht einmal einer Fliege etwas zu Leide tun. Zumindest meistens. 

Ihre Schultern bebten unter seinen Händen und aus ihr kamen unterdrückte Laute, als wollte sie nicht zulassen, dass sie weinte. Hunter fühlte sich mehr und mehr beklommen, dass er ihr nicht helfen konnte. 

„Jayda, bitte. Was ist los mit dir? Ich bin für dich da, ich helfe dir", flehte er sie beinahe an und trat noch einen Schritt näher an sie heran. Endlich drehte sie langsam den Kopf zu ihm, vermied es aber weiterhin, ihm in die Augen zu sehen. Tränen schimmerten auf ihren Wangen, das konnte Hunter trotz der Dunkelheit um sie herum erkennen. 

„Ich... ich habe Angst", flüsterte Jayda und augenblicklich nickte Hunter. 

„Ich auch. Aber wir beschützen uns. Gemeinsam schaffen wir das", versprach er, auch wenn er eigentlich genau so hilflos war, wie sie sich zu fühlen schien. Ihre Mundwinkel zuckten für den Bruchteil einer Sekunde zu einem sarkastischen Lächeln nach oben. 

„Was schaffen wir? Ziellos durch die Wälder zu wandern?", fragte sie bitter und so kühl, dass es Hunter eiskalt den Rücken hinunterlief. Allerdings musste er zugeben, dass sie recht hatte. Eigentlich taten sie nichts anderes seit Tagen und bevor er sie getroffen hatte, war er genau wie jetzt auch ziellos durch die Gegend gewandert. Hauptsache nur weg. Fieberhaft überlegte er, was er ihr sagen sollte, aber Müdigkeit und Erschöpfung vernebelten ihm sein Hirn. Jayda schnaubte verächtlich, schüttelte seine Hände von ihren Schultern und verschränkt die Arme vor der Brust. 

„Wir... wir brauchen erst einmal Abstand. Dann können wir uns ein Ziel überlegen, auf das wir hinarbeiten", erwiderte Hunter und richtete den Schein der Taschenlampe auf ihre Füße. Er bemerkte, dass Jaydas Knie zitterten, sie schlotterte geradezu. 

„Du kommst allein zurecht, du hast Geld und... und alles. Ich nicht", hauchte sie und schon wieder liefen ihr neue Tränen über die Wangen. Hunter widerstand dem Drang, sie mit dem Finger aufzufangen. Er lachte bitter und freudlos auf. 

„Ich wandere schon seit Wochen ziellos umher. Ich bekomme also gar nichts hin", widersprach er und meinte es durchaus ernst. Inzwischen wusste er nicht mehr, wie lange er schon von zu Hause weg war, fünf Wochen mussten es mindestens schon sein. 

„Manchmal glaube ich, es wäre leichter, wenn ich wieder zurückgehe."

Hunter erstarrte. Zwar wusste er nicht, was genau ihre Beweggründe gewesen waren, von zu Hause wegzulaufen, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen zurückzukehren. Niemals wieder wollte er zurück. Verbitterung machte sich in ihm breit, denn wenn sie verlangte umzukehren, würde sie allein gehen müssen. 

„Also ich weiß, dass ich ganz sicher nicht zurückgehen werde. Ich gehe in diese Richtung, nach vorn, in eine neue Zukunft", sagte er und fühlte sich auf einmal wieder bestärkt darin, dass sein Leben besser werden wurde. Jayda riss den Blick zu ihm herum und Hunter erkannte in ihrem Gesicht die unausgesprochene Frage nach seinen Gründen. Aber die würde er erst einmal für sich behalten. 

„Na los, gehen wir weiter und suchen nach einem Unterschlupf für die Nacht. Morgen wird sicher ein besserer Tag", brummte er und setzte sich in Bewegung. Er sah aus dem Augenwinkel, dass Jayda sich nicht rührte und immer dunkler wurde ihre Gestalt, bis sie schließlich von der Dunkelheit verschluckt wurde. 

„Hunter, warte!"

Er grinste in sich hinein, denn auch wenn er kein Problem damit haben würde, allein weiterzugehen, war Jadya trotz ihrer Schweigsamkeit eine nette Begleiterin. Langsam drehte er sich zu ihr um und leuchtete ihr den Weg, bis sie außer Atem beinahe gegen ihn knallte. 

„Du kannst mich doch nicht allein zurücklassen, nicht nachts im dunklen Wald", beschwerte sie sich, was sein Grinsen nur noch breiter werden ließ. 

„Ich hätte dich schon nicht zurückgelassen."

Jayda schien skeptisch, bedeutete ihm aber mit einer Kopfbewegung, dass er sich in Bewegung setzen sollte. Er richtete die Taschenlampe wieder nach vorn und gemeinsam gingen sie weiter durch das Unterholz. Immer wieder ließ er den Lichtkegel über die Umgebung wandern, auch der Suche nach einer Möglichkeit, eine kleine Hütte zu bauen oder einen natürlichen Unterschlupf zu finden. Immer wieder vergewisserte er sich, dass Jayda noch da war, aber trotz ihrer offensichtlichen Zweifel wich sie ihm nicht von der Seite. 

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