Kaum dass Jayda das Haus verließ und auf die Veranda trat, spürte sie die angenehm warmen Sonnenstrahlen auf der Haut. Für einen Moment lang schloss sie die Augen und ließ sich das Gesicht wärmen, bis sie sich zurück ins Hier und Jetzt holte.
Dass Hunter heute Geburtstag hatte, war überraschend gekommen und auch wenn sie sich heute Morgen ein wenig gestritten oder zumindest dieses Missverständnis zwischen ihnen gestanden hatte, wollte sie ihm ein kleines Geschenk basteln.
Immerhin kümmerte er sich um sie, bezahlte das Essen für sie und leistete ihr Gesellschaft. Dafür war sie wirklich dankbar, denn hätte er sie nicht aufgelesen, wäre sie vermutlich schon wieder zurück zu ihrem Elternhaus gegangen. Je länger sie jedoch weg war, umso weiter rückte diese Option in die Ferne, worüber sie froh war. In ein paar Monaten würde auch sie volljährig werden, dann könnten ihre Eltern sie auch nicht mehr zwingen, zurückzukommen.
Jayda atmete tief durch, stieg die Stufen hinunter und betrat den weichen Waldboden vor der Veranda. Sie wandte sich nach links und ging an der Vorderseite des Hauses entlang, bis sie an die Giebelseite gelangte. Hier lag vor dem Waldesrand eine kleine Wiese, auf der das Gras kniehoch wucherte.
Schon auf dem Rückweg von Einkaufen war ihr die Idee gekommen, für Hunter einen kleinen Kranz auf Tannenzweigen und Gras zu basteln. Immerhin hatte er gesagt, dass seine Lieblingsfarbe das Grün der Tannen sei.
Sie stapfte durch das Gras, und stellte sich vor, wie schön es sich auf ihren nackten Beinen anfühlen würde, dieses vertraute Kitzeln und Liebkosen. Allerdings war es dafür trotz der Sonne zu kalt und sie beeilte sich, zu der dichten Baumgruppe zu kommen, die das Haus umringte.
Glücklicherweise waren sie hier in einem Tannenwald, sodass sie schnell ein paar heruntergefallene Äste fand, die sich zu einem Kranz binden konnte. Zwar würde es kein wirklich tolles Geschenk werden, aber sie war sich sicher, dass Hunter sich darüber freuen würde. Sie hob die Äste auf, die noch saftig grün waren und ging zurück zur Wiese, wo sie einige lange, dicke Grashalme ausriss. Geschickt band sie damit die Zweige kreisförmig zusammen, sodass ein kleiner, vielleicht zwanzig Zentimeter im Durchmesser großer Kranz entstand. Zum Schluss flocht sie drei Grashalme zu einem starken Band, an dem der Kranz aufgehangen werden konnte.
Jayda betrachtete ziemlich zufrieden ihr Werk, strich sanft über die grünen Tannennadeln und sog den ätherischen Duft ein, der sie immer an Weihnachten erinnerte.
Ihr Blick wanderte zum Haus und als sie durch das Fenster im Erdgeschoss sah, erkannte sie den Kuchen, der in der Küche auf dem Tisch stand. Augenblicklich lief ihr das Wasser im Mund zusammen und sie bekam große Lust, den ganzen Kuchen auf einmal zu essen. Selbst, wenn sie davon Bauchschmerzen bekommen würde.
Noch einmal betrachtete sie den Kranz in ihren Händen und wurde auf einmal nervös. Was, wenn Hunter sie auslachen würde, dass sie ihm so ein albernes Geschenk machte? Unwillkürlich musste sie an heute Morgen denken, als sie ihn in der Badewanne gehört hatte. Ein dicker Kloß bildete sich in ihrer Kehle, denn eigentlich hatte Hunter nicht so geklungen, als würde er sie anlügen. Dennoch wusste sie, was sie gehört hatte, auch wenn es vielleicht ihrer Fantasie entsprungen war.
Kopfschüttelnd vertrieb sie den Gedanken, straffte die Schultern und stapfte durch das hohe Gras zurück zum Haus. Als sie auf die Veranda trat und die Haustür öffnete, quietschte sie unheilverkündend, aber im Sonnenschein wirkte das ganze Haus nicht mehr wirklich gruselig. „Hunter?", rief sie, als sie den Flur betrat und die schwere Tür mit einem endgültigen Geräusch hinter sich schloss. Sogleich hörte sie ein Räuspern, das aus dem Wohnzimmer kam.
„Ich bin hier", rief er und keine Sekunde später öffnete er die Wohnzimmertür, die angelehnt gewesen war. Jayda hielt den Kranz in die Höhe, der mit dem geflochtenen Band an ihrem rechten Zeigefinger baumelte. Neugierig beobachtete sie Hunters Reaktion, der überrascht die Augen aufriss und langsam auf sie zukam. Sein Mund war leicht geöffnet, als würde er staunen, was sie da fabriziert hatte. Sie grinste.
„Das ist für dich, zum Geburtstag. Tannengrün ist deine Lieblingsfarbe", sagte sie und kam sich ziemlich bescheuert vor. Hunter jedoch nickte und sein staunender Gesichtsausdruck wich einem warmen Lächeln. Vorsichtig berührte er die Zweige mit den Fingern, was den Kranz leicht zum Schwingen brachte.
„Der ist wirklich schön. Danke", hauchte er und nahm den Kranz in die Hände. Jayda zuckte die Schulter und schob die Hände verlegen in die Hosentaschen.
„Was hältst du davon, wenn wir ihn über dem Kamin aufhängen?", schlug Hunter vor, wandte sich aber schon um, ohne eine Antwort von ihr abzuwarten und ging zurück ins Wohnzimmer. Jayda folgte ihm und auch wenn er womöglich den Kranz nur aus Höflichkeit aufhängen wollte, freute sie sich darüber.
Hunter war wirklich ein netter Kerl, selbst wenn er... nun ja, wenn er heute Morgen seine Bedürfnisse befriedigt hatte. Eilig verdrängte sie die Erinnerung und beobachtete, wie Hunter den Kranz zum Kamin trug. Der Kamin war ein wuchtiges Teil aus grob behauenem, dunklem Stein und sie sah, wie er sich suchend nach etwas umsah.
„Du hast nicht zufällig einen Nagel dabei?", fragte er, was sie mit einem Kopfschütteln beantwortete. Hunter wandte den Blick wieder zu der Steinmauer über dem Kamin und fuhr mit den Fingern darüber.
„Hier sollte es gehen", sagte er schließlich und hielt den Zeigefinger auf eine Stelle, während er das Band des Kranzes dort platzierte. Es spannte sich, als er den Kranz vorsichtig losließ. Verwundert trat Jayda näher heran und betrachtete den Kamin genauer. Tatsächlich war dort, wo Hunter den Kranz aufgehangen hatte, eine kleine Nase im Stein, die sich perfekt dafür eignete, kleine Dinge daran aufzuhängen. Er betrachtete noch einmal den Kranz, bevor er sich zu ihr umdrehte und sie anstrahlte.
„Danke, das ist wirklich nett von dir", sagte er und auf einmal wurde ihr bewusst, wie nah sie ihm war. Als würde auch er das in diesem Moment bemerken, wich er einen Schritt zurück. Einen Moment lang herrschte Stille, bis Hunter sich erneut räusperte und verlegen seine Hand an seinen Hinterkopf führte.
„Du hast nicht zufälligerweise auch schon Appetit auf den Kuchen?", fragte er und Jayda erkannte, wie sich ein breites Grinsen auf seinen Lippen ausbreitete.
„Zufälligerweise habe ich ziemlich großen Appetit auf Kuchen", erwiderte sie und grinste ihn an. Hunter entschlüpfte ein kleines Lachen, bevor er eine Kopfbewegung in Richtung der Tür machte. Anschließend setzte er sich in Bewegung und Jayda folgte ihm. Bei der Vorstellung, wie sie sich gleich den saftigen Schokokuchen auf der Zunge zergehen ließ, lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
„Weißt du, eigentlich wollte ich dir ja nicht sagen, dass ich Geburtstag habe, aber jetzt bin ich ziemlich froh darüber, dass ich es getan habe", sagte Hunter, gerade als sie die Küche betraten. Jayda kicherte.
„Ich bin auch ziemlich froh, dass du den Anlass für Kuchen gegeben hast", erwiderte sie.
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Amber
HorrorJayda und Hunter, zwei siebzehnjährige Ausreißer, finden Zuflucht in einem verlassenen Herrenhaus. Blackwood Manor, ein im Wald gelegenes, beeindruckendes Anwesen ohne Strom und Wasser wird bald ihr Zufluchtsort. Allerdings dauert es nicht lange, bi...