Hunter hörte absolut nichts, außer dem Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Seine Hand lag auf der Klinke der Tür, die in den Flur führte, in der anderen hielt er die Taschenlampe. Jayda stand dicht bei ihm und umklammerte seinen Arm, sodass es wirkte, als würde sich seine Hand noch fester auf die Türklinke legen.
Er spürte, wie sie zitterte und ganz offensichtlich hatte sie panische Angst. Hunter hingegen spürte eher Wut, dass sich jemand erdreistete, sie so zu Tode zu erschrecken und er war fest entschlossen, den Übeltäter zu erwischen.
Er drückte die Klinke nach unten und zog die Tür auf. Jaydas Finger umklammerten seinen Arm so fest, dass er sicherlich blaue Flecken davon bekommen würde.
„Beeilen wir uns, bevor er abhaut", flüsterte er und trat in den Flur. Jayda stieß ein ängstliches Geräusch aus, das er als Zustimmung interpretierte. Auch sie setzte den Fuß über die Schwelle und folgte ihm in den Flur. Hunters Blick huschte nach links zur Küchentür, die fest verschlossen war, anschließend sah er nach rechts zur Treppe. Möglichst leise setzte er sich in Bewegung.
„Sehen wir in der Küche nach", hauchte er, bekam aber keine Antwort. Jayda ließ sich mitziehen, offensichtlich zögerlich. Hunter legte wieder die Hand auf die Klinke, um die Küchentür zu öffnen, als auf einmal ein tosender Lärm ausbrach.
Jayda schrie, fiel auf den Boden und presste sich die Hände auf die Ohren. Hunter hingegen blieb stocksteif stehen, fühlte sich wie gelähmt, während es in seinen Ohren klingelte. Erst da erkannte er, dass diese Getöse eher ein Gong war, eine Glocke. Die Standuhr! Das Geräusch, das sich in einem gleichmäßigen Rhythmus wiederholte und ihm mit jedem Schlag einen Blitz durch Mark und Bein jagte, war ohrenbetäubend.
Jayda lag zusammenkauert auf dem Boden, die Hände noch immer auf die Ohren gepresst und weinte. Hunter machte einen Satz über sie hinweg, bis zur Standuhr, die neben der Eingangstür stand. Bisher war sie immer still geblieben, wieso machte sie nun einen solchen Lärm? Es war viel zu laut für eine normale Standuhr und als er im Schein seiner Taschenlampe zunächst auf das Ziffernblatt leuchtete, stellte er fest, dass es Mitternacht sein musste.
Die Uhr schlug in einem unglaublichen Getöse Mitternacht. Wie oft hatte sie schon geschlagen? Er wusste es nicht. Was er allerdings wusste war, dass es gleich vorbei sein musste. Dennoch klopfte er den Körper der Uhr ab, suchte nach einem Schlüssel, um sie zu öffnen, aber natürlich steckte keiner in dem kleinen Schloss.
Da war es auf einmal still. Totenstill, bis auf Jaydas leises Schluchzen. Hunter richtete die Lampe auf sie und er sah, dass sie noch immer auf dem Boden hockte, die Arme über dem Kopf zusammengeschlagen, als würde sie sich möglichst klein machen und vor einem Angriff schützen.
Auch Hunters Herz pochte aufgeregt und auch wenn er den Eindringling finden wollte, bevor er sich wieder hinlegte, war Jayda nun wichtiger. Sie war vollkommen verängstigt. Langsam ließ er sich neben ihr nieder, legte die Taschenlampe neben ihr ab und streckte die Hand nach ihr aus. Kurz bevor er ihren Rücken berührte, hielt er inne. Sie hatte sich noch nicht gerührt, so als hätte sie noch nicht bemerkt, dass der Lärm aufgehört hatte.
„Jayda, es ist vorbei", sagte er ruhig, allerdings klang seine Stimme ganz weit weg, so als würden seine Ohren noch von dem Lärm rauschen und alles schlucken. Er sah, wie sie erbebte, dann aber langsam die Arme von ihrem Kopf herunter nahm und sich zögerlich aufrichtete. Auf ihren Wangen schimmerten Tränen und ihre Augen waren schreckgeweitet und wachsam zugleich, als erwartete sie einen erneuten Angriff.
„Jayda? Bist du in Ordnung?", fragte Hunter, obwohl deutlich erkennbar war, dass sie nicht in Ordnung war. Ganz langsam drehte sie den Kopf zu ihm herum, die Stirn durchfurcht von Sorgenfalten. Und noch etwas erkannte er in ihrem Blick. Panik. Blanke Panik.
„Ist es weg?", fragte sie leise. Hunter nickte, auch wenn er den Eindringling noch nicht gefunden hatte. Aber sicherlich hatte er sich inzwischen aus dem Staub gemacht.
„Ja, es ist vorbei. Alles ist wieder ruhig", erklärte er sanft und einfühlsam, als würde er zu einem Kind sprechen. Jayda nickte, bewegte sich aber keinen Zentimeter. Hunter schluckte schwer. Mit Sicherheit wollte Jayda nicht länger als nötig in diesem Haus bleiben, aber es wäre alles andere als klug, mitten in der Nacht das Haus zu verlassen. Noch einmal streckte er die Hand nach ihr aus und führte sie langsam zu ihrer Schulter.
„Ich beschütze dich, du brauchst keine Angst mehr haben", versprach er, auch wenn er sich gar nicht so sicher war, ob er dieses Versprechen würde halten können. Dennoch nickte sie und neigte den Kopf zur Seite, dass ihre Wange seine Hand auf ihrer Schulter berührte. Er spürte, wie nasse Tränen auf seine Haut liefen und bevor er wirklich darüber nachdachte, zog er Jayda in eine feste Umarmung. Sie ließ es zu, erwiderte sie aber nicht. Tatsächlich musste Hunter zugeben, dass auch er selbst sich besser fühlte, denn auch ihm saß der Schreck noch immer in den Knochen.
„Komm, verkriechen wir uns ins Wohnzimmer. Morgen früh machen wir, dass wir von hier wegkommen", schlug er vor. Auch wenn dieses Haus ihr bisher komfortabelster Unterschlupf war, er war auch ihr unheimlichster.
„Okay", krächzte sie und löste sich aus seiner Umarmung. Allerdings klammerte sie sich wieder an seinem Arm fest.
„Aber können wir vielleicht einen Stuhl unter die Klinke klemmen, damit auch wirklich niemand mehr hereinkommen kann?"
Hunter nickte und erhob sich, anschließend zog er auch Jayda auf die Beine.
„Gute Idee", pflichtete er ihr bei und warf einen Blick in die Küche, wo, wenn er sich recht erinnerte, ein Tisch mit Stühlen gestanden hatte. Er erkannte gleich mehrere Stühle mit einer wunderbaren Holzlehne, die sich gut dafür eignen würde, die Tür zu verbarrikadieren. Er ging die wenigen Schritte in die Küche und schnappte sich den Stuhl.
Jayda ließ seinen Arm keine Sekunde lang los, bis er ihn ein wenig ungeschickt ins Wohnzimmer gehievt hatte. Eilig schloss er die Tür und klemmte den Stuhl unter die Klinke, sodass die Tür von außen nicht mehr geöffnet werden konnte. Erleichtert atmete Jayda auf und ließ seinen Arm los. Auch Hunter fühlte sich ein wenig wohler und als er zu ihr sah, erkannte er keine Panik mehr in ihrem Blick.
„Schlafen wir noch ein bisschen. Jetzt sind wir sicher hier drin", sagte er, allerdings richtete sich Jaydas Blick sofort auf ihn. Sie umklammerte sich selbst mit den Armen und sah ihn mit großen Rehaugen an.
„Könntest du... könntest du dein Sofa etwas näher an meines schieben? Nur...", setzte sie zögernd an, senkte aber anstatt den Satz zu beenden den Blick auf den Boden. Hunter wusste, dass sie sich dann besser fühlen würde, also nickte er.
„Klar, kein Problem", sagte er betont locker und eilte zu seinem Sofa. Mit einem Ächzen schob er erst die eine Seite, dann die andere näher an Jaydas heran, sodass dazwischen nur noch knapp ein Meter lag.
„Danke. Ich bin wirklich ein Angsthase", nuschelte sie und huschte zu ihm. Eilig verkroch sie sich in ihrem Schlafsack und zog ihn bis unters Kinn. Auch Hunter legte sich hin und lauschte einen Moment lang. Es war nur noch das Knistern und Knacken des Feuers im Kamin zu hören, das eine angenehme Wärme spendete.
„Weck mich ruhig auf, wenn du Angst bekommst", sagte er streng zu Jayda, die jedoch nicht reagierte. Sie lag auf der Seite, das Gesicht ihm zugewandt und die Augen fest zusammengepresst. Auch Hunter lag seitlich zu ihr gewandt, sodass er die Lehne des Sofas im Rücken hatte. Es war albern, aber irgendwie fühlte er sich so nicht so angreifbar, als wenn er mit dem Rücken zur offenen Seite lag. So hatte er alles im Blick.
Kopfschüttelnd versuchte er, die Angst zu vertreiben. Allerdings musste er zugeben, dass ihm ganz schön die Pumpe gegangen war, als die Standuhr auf einmal angefangen hatte zu bimmeln. Aber nun war sie still, der Typ, der sie hatte erschrecken wollen war sicherlich über alle Berge und nur er und Jayda waren hier.
Morgen würden sie ihre sieben Sachen zusammenpacken und sich auf die Suche nach einem neuen, passablen Unterschlupf machen. Zufrieden mit sich, dass er einen Plan hatte, wie es nun weiterging, schlief Hunter schließlich ein.
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Amber
HorrorJayda und Hunter, zwei siebzehnjährige Ausreißer, finden Zuflucht in einem verlassenen Herrenhaus. Blackwood Manor, ein im Wald gelegenes, beeindruckendes Anwesen ohne Strom und Wasser wird bald ihr Zufluchtsort. Allerdings dauert es nicht lange, bi...