Kapitel 47 - Jayda

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Rachel. Das war Rachel, oder vielmehr ihr Geist, der zu ihr sprach. Hatte Amber es geschafft und ihre Seele befreien können? Aufmerksam versuchte Jayda irgendein Zeichen ausmachen zu können, wo Rachel sich genau befand. 

„Geh zur Treppe, die nach oben führt", sagte Rachel, so als hätte sie ihre Gedanken gelesen. Ohne zu zögern gehorchte Jayda, denn auch wenn das nur ein Trick von Alastor sein konnte, weckte die Stimme eines kleinen Kindes ein Vertrauen in ihr, das sie nicht so recht beschreiben konnte. 

Ihre Schritte fühlten sich schwerfällig an und ihre Schulter schmerzte ungemein, aber sie beeilte sich, der Stimme zu folgen und zur Treppe zu kommen. Diese lag genau über der Kellertreppe und ihr wurde bewusst, dass Hunter und Amber direkt unter ihr sein mussten. 

Noch immer drangen Schreie von Hunter zur ihr herauf, die sie jedoch versuchte, auszublenden. Sie musste sich auf Rachels Stimme konzentrieren, denn sicherlich hatte sie einen guten Grund, warum sie zu ihr sprach. 

Jayda gelangte an den Fuß der Treppe und sah sich suchend um. Allerdings konnte sie nichts erkennen, keine geisterhafte Gestalt oder gar die kleine Rachel aus Fleisch und Blut. 

„Ich bin hier unten, unter der Treppe. Amber wollte mich befreien und sie ist mir noch immer ganz nah, deswegen kannst du mich hören", erklärte Rachel und augenblicklich sank Jayda auf die Knie und beugte sich über die unterste Treppenstufe. Tatsächlich glaubte sie, einen kühlen Lufthauch wahrnehmen zu können, was sie jedoch eilig abtat. Immerhin befand sie sich über einem Keller, da war es gar nicht unüblich, dass durch die Ritzen zwischen Stufen und Wand etwas kalte Luft drang. 

Gleichzeitig versuchte ihr Hirn Rachels Worte in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Bisher hatte sie noch nie auch nur den Hauch von Rachels Präsenz gespürt, abgesehen von der Vision, die Amber sie hatte sehen lassen. War es vielleicht möglich, dass durch Ambers Versuch, das Grab zu öffnen Rachels Seele schon sozusagen auf dem Sprung war? Wusste sie, dass sie womöglich bald befreit wurde und ihren Frieden finden konnte? 

„Rachel?", fragte Jayda leise. Keine Sekunde später vernahm sie im Augenwinkel eine kaum merkliche Bewegung. Erschrocken zuckte sie zusammen, richtete aber dennoch ihren Blick auf diese Stelle. Es war genau in einer der Ritzen zwischen der untersten Treppenstufe und der Wand, aus welcher sie eben auch geglaubt hatte, den Lufthauch zu spüren. Was sie allerdings sah, jagte ihr einen Schauer über den Rücken und ließ sie gleichzeitig hoffnungsvoll werden. 

Ein kleiner, merkwürdig blass durchscheinender Finger bohrte sich ein Loch zwischen die kleine Lücke. Holzsplitter der Treppe lösten sich und ließen das Loch immer größer werden. 

„Die Kellertür ist versperrt, aber hier scheint das Holz modrig zu sein", sagte Rachel und da begriff Jayda endlich! Sofort begann sie, mit den Fingernägeln erst kleine, dann immer größere Stücke aus der Treppe zu lösen. Es ging unerwartet leicht und sie fragte sich, warum ihnen nicht schon zuvor die Idee gekommen war, die Treppe zu untersuchen. Das Holz war alt und roch schimmlig, aber es ließ sich wunderbar lösen. Schon nach wenigen Sekunden hatte sie gemeinsam mit Rachel ein Loch geschaffen, das groß genug war, damit sie hindurchschlüpfen konnte. 

„Du musst dich beeilen. Amber ist fast tot und dann kann niemand mehr meine Seele befreien", drängte Rachel und ohne länger mit sich und ihren Unzulänglichkeiten zu hadern kletterte Jayda durch das Loch. Sie musste einfach Rachel helfen und auch wenn Amber alles andere als nett war, fiel es ihr schwer, sie einfach sterben zu lassen. Abgesehen davon, was das für weitreichende Folgen für die Kleine und auch für Hunter haben würde. 

Eigentlich hatte Jayda sich an der Stufe, die noch intakt war festhalten wollen, aber das Holz brach unter ihren Fingern weg und sie fiel polternd in den Keller. Hoffentlich hatte Alastor ihr Missgeschick nicht gehört und ohne auch nur zu kontrollieren, ob sie sich vielleicht verletzt hatte, rannte sie in den kleinen Kellerraum. Er war schwach erleuchtet, aber es reichte, damit sie erfassen konnte, was hier vor sich ging. 

Diese graue Masse, die sie eben in den Keller hatte gleiten sehen, hielt wie eine Würgeschlange Amber und Hunter gefangen. Hunter schrie und schien dagegen anzukämpfen, während Amber vollkommen regungslos in den Fängen des Schlangenwesens lag. Alastor hockte auf dem Boden, ihr den Rücken zugewandt und den Blick auf den Boden gerichtet. Er wirkte geschwächt, vermutlich weil Amber verletzt war. Aber wieso sollte er sich selbst schwächen, indem er dieses Ding auf sie losließ? 

„Jayda!", riss Rachels Stimme sie aus ihren Grübeleien und eilig riss sie sich zurück ins Hier und Jetzt. Sie musste handeln, und zwar schnell. Sie hechtete an Alastor sowie diesem Schlangenwesen vorbei und sah endlich die kleine Rachel. Sie saß hinter Hunter und Amber auf dem Boden und deutete auf eben diesen. 

„Mein Körper liegt da unten. Wegen Alastor war es Amber nicht möglich, das Grab zu öffnen. Aber da sie in der Nähe ist, kannst auch du es tun", erklärte Rachel und Jayda fand, dass sie viel älter klang, als ihr kleiner Körper wirkte. 

Augenblicklich machte sie sich an die Arbeit, stürzte sich auf den Boden und fand in Sekundenschnelle den kleinen losen Stein, der das Grab öffnen würde. Sie pulte ihn heraus und schmiss ihn achtlos beiseite und stemmte mit aller Kraft die große Platte hoch. 

Da lag sie. Oder viel mehr das, was von einem Menschen übrig war, der seit mehr als fünfzig Jahren verscharrt in einem Keller lag. Jaydas Blick fiel sogleich auf die Halswirbel das Skeletts, um welches diese vermaledeite Kette lag, die der Anfang des ganzen Übels zu sein schien. Sie dachte nicht länger nach. Ihr war klar, dass sie womöglich nur noch wenige Sekunden Zeit hatte, bevor es Mitternacht schlug und so sprang sie hinunter in das Grab und löste die Holzkette von Rachels Überresten. 

„Was muss ich mit der Kette tun, um Alastor zu verbannen?", fragte sie und sah sich suchend nach Rachels körperlosem Ich um. Sie entdeckte sie direkt neben ihrem eigenen Skelett. Rachel sah sie an und deutete auf die Kette. 

„Leg sie dir um, dann bist du für Alastor nicht mehr angreifbar. Sobald er dich sieht, sprichst du die Worte ex memoria und zerstörst die Kette. Somit hast du den Auslöser für sein Auftauchen in diesem Haus zerstört. Nur weil ich die Kette wollte, bin ich gestorben. Aber beeile dich, Amber hat nur noch wenige Sekunden zu leben", erklärte Rachel. Jayda begriff den Sinn hinter ihren Worten nicht wirklich, aber sie konnte in diesem Moment nicht darüber nachdenken. 

Geistesgegenwärtig legte sie sich die Kette um und kletterte unerwartet geschickt aus dem Grab. Sie stürmte an dem Schlangenwesen vorbei direkt zu Alastor, der noch immer schwach auf dem Boden saß. Er schien sie erst zu bemerken, als die nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt war. Langsam hob der Dämon den hässlichen Wolfskopf. Als er sie erblickte, wurde sein Gesichtsausdruck panisch. 

„Du? Wie bist du in hier runter gekommen?", fragte er matt, allerdings klang seine Stimme nicht wütend oder gar angriffslustig, sondern verwundbar. 

Ex memoria!", schleuderte Jayda ihm entgegen, legte die Hände an die dicken Perlen der Kette und zog mit aller Kraft daran. Die Perlen fielen mit einem klackernden Geräusch auf den Steinboden und kullerten in Alastors Richtung, als würden sie von ihm und nicht mehr der Schwerkraft angezogen. 

AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt