Kapitel 21 - Jayda

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Jayda schrie erschrocken auf, als Hunter unsanft auf den Waldboden fiel. Glücklicherweise trug er noch immer seinen Rucksack, der seinen Sturz auf den Rücken zumindest ein wenig abfederte. Dennoch schien Hunter alle Luft aus den Lungen gepresst zu werden, zumindest seiner Keuchen nach zu urteilen. Sofort eilte Jayda zu ihm und hockte sich auf den Boden. 

„Hunter, geht es dir gut?", fragte sie panisch und streckte die Hand nach seinem Arm aus. Hunter ächzte und blinzelte ein paar Mal, so als würde er Sternchen sehen, dann nickte er. 

„Ja, ich denke, es ist alles okay", sagte er matt und richtete sich mühsam auf. Jayda stützte ihn, allerdings war sie noch immer skeptisch. Er war einige Meter nach unten gefallen, schließlich war er beinahe ganz oben am Tor gewesen. 

„Das Tor, es... und diese Visage...", stammelte er, schüttelte anschließend ihren Arm ab und richtete sich mühsam auf. Er schlug sich den Dreck von den Klamotten und sah ungläubig zum Tor hinauf. 

Jayda war verwirrt. Was meinte er nur damit? Fragend sah sie ihn an und als würde er es spüren, trafen sich ihre Blicke. Komischerweise sah er verunsichert aus, beinahe nachdenklich. 

„Wir... wir werden nicht über das Tor klettern können. Es war ganz ähnlich wie bei den Fenstern. Es ist immer weiter in die Höhe gewachsen, sodass ich das Ende nicht erreichen konnte", berichtete er. Augenblicklich spürte Jayda ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut. Tatsächlich hatte es von unten gar nicht so ausgesehen. Hunter war an den Tor empor geklettert, hatte kurz bevor er das Ende der Metallstreben erreicht hatte, das Gleichgewicht verloren und war gestürzt. 

Allerdings wagte sie es nicht, ihn darauf hinzuweisen, dass nichts dergleichen geschehen war. Denn dass hier unheimliche Dinge geschahen, stand außer Frage. Es konnte durchaus sein, dass sie getrennt voneinander unterschiedliche... Erscheinungen hatten. 

„Und...", setzte Hunter an und riss sie so aus ihren schaurigen Gedanken. Sie richtete den Blick wieder auf ihn und bemerkte nun noch eine Emotion in seinem Gesicht: Angst. Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Atem und sie spannte sich am ganzen Körper an, in der Erwartung, er würde sogleich von etwas Schrecklichem berichten. 

„Da... da oben, da habe ich hinter den Gittern eine unheimliche Fratze gesehen. Nur für einen Moment, aber... sie war da!", sagte er, wobei seiner Stimme einen Hauch von Wahnsinn oder vielleicht eher Unglaube anhaftete. Ohne es verhindern zu können sah Jayda ein gruseliges, furchteinflößendes Monster vor sich. 

„Wie sah diese Fratze aus?", fragte sie und schüttelte leicht den Kopf, um dieses makabre Bild vor ihrem inneren Auge verschwinden zu lassen. Hunter senkte den Blick auf den Boden, den Mund leicht geöffnet. Er wirkte, als wäre er unglaublich angespannt. Als er den Blick wieder hob, erschauderte Jayda. 

„Es war... es war ähnlich dem Gesicht eines Wolfes, nur nicht mit weichem Fell, sondern mit dunklen, borstigen Haaren und weit aufgerissenen, starrenden Augen. Die Zähne gebleckt. Dieses... dieses Ding wirkte nicht wie etwas von dieser Welt! Ich meine... es war wie ein Monster", rief er aus und auf einmal bemerkte Jayda, dass Tränen in seinen Augen standen. Gleichzeitig wurde ihr mulmig zumute und sie blickte hinauf zum Tor. Nichts war dort zu sehen, natürlich nicht. 

„Meinst du... das war Amber?", fragte Hunter unsicher, allerdings schüttelte Jayda entschieden den Kopf. Sie wusste nicht, woher sie diese Gewissheit nahm, aber sie stellte sich Amber nicht wie ein gruseliges, wolfartiges Wesen vor, sondern wie ein unschuldiges Mädchen. Nun ja, vielleicht nicht unschuldig, immerhin schien sie ihnen mehr als einmal einen Schrecken eingejagt zu haben. 

„Und... was war das dann?", fragte Hunter aufgebracht und zeigte mit der ausgestreckten Hand in Richtung des Tors. Jayda zuckte die Schultern. 

„Ich weiß es nicht, aber... vielleicht hat sie dich dieses Monster sehen lassen", vermutete sie, allerdings schlich sich noch ein ganz anderer Gedanke in ihr Hirn. 

„Was? An was denkst du?", fragte Hunter, der offensichtlich ihre Nachdenklichkeit bemerkt hatte. Jayda schluckte schwer, denn diese Idee war eindeutig beunruhigender als die, dass Amber sie unheimliche Dinge sehen leiß. 

„Vielleicht war dieses Ding, das du gesehen hast, der wahre Grund, warum wir und auch Amber nicht von hier fliehen können. Dieses Monster hält uns hier fest und... keine Ahnung. Will unschuldige Seelen sammeln", sagte sie betont lässig, aber in ihr drin spannte sich jede einzelne Muskelfaser an. Auch Hunters Atem ging auf einmal schneller und keuchender. 

„Da könnte tatsächlich etwas dran sein. Vorausgesetzt, wir glauben an Übernatürliches", sagte er und Jayda hörte, dass er noch immer nicht recht daran glauben wollte, dass hier womöglich Geister oder sonst was existierten. Verärgert über seine Uneinsichtigkeit schnalzte sie mit der Zunge. 

„Wie kannst du immer noch nicht davon überzeugt sein, dass hier wirklich etwas geschieht, das nicht mit Wissenschaft und rationalem Denken zu erklären ist?", fragte sie wütend, denn sicherlich würde seine Weigerung, sich für diese Dinge zu öffnen es nicht gerade leichter machen, von hier zu entkommen. Hunter schnaubte verächtlich, verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich ab. 

Jayda sah ihm nach, wie er zurück in Richtung des Hauses stapfte. Sie folgte ihm, denn was blieb ihnen anderes übrig, als herauszufinden, was hier vor sich ging? Denn erst wenn sie es begriffen, wenn sie genau wussten, wer Amber war und was mit ihr geschehen war, konnten sie vielleicht einen Plan entwickeln, wie sie von hier fliehen konnten. 

AmberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt