Jayda spürte, dass sie weinte. Hunters Geschichte war so schrecklich, so grauenhaft, dass sie sich schlecht fühlte, dass sie wegen ein paar Schlägen davongelaufen war. Sie konnte verstehen, warum Hunter sich so sehr gewehrt hatte, ihr und Amber seine Geschichte zu erzählen und sie wusste, dass es ihm nicht leicht gefallen sein konnte.
Vorsichtig sah sie zu Hunter, der den Blick starr auf den Boden gerichtet hatte. Regungslos saß er da und sie wagte es nicht, ihm fürsorglich die Hand auf die Schulter zu legen, wie sie es am liebsten getan hätte.
Plötzlich stieß Hunter die Luft aus und setzte sich aufrechter hin.
„So, da habt ihr mein Geständnis", sagte er beinahe sorglos, so als wäre tatsächlich durch das Erzählen eine Last von ihm abgefallen. Er sah zu Amber, die noch immer ausdruckslos aussah.
„Was für eine schreckliche Geschichte. Ich kann verstehen, warum Alastor auf dich überspringen will", sagte sie tonlos und vollkommen ohne Einfühlungsvermögen, was Jayda irgendwie ärgerte. Immerhin hatte Hunter den dunkelsten Teil seiner Selbst offenbart.
„Gut, du bist dran", forderte Hunter Amber auf und deutete mit dem Kinn auf sie.
Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre im Raum. Jayda erschauerte, als sich ein dunkler Schleier, nein, eine dunkle Wolke um sie herum ausbreitete. Ein Lachen ertönte, eindeutig das eines Kindes. Jayda schrie erschrocken auf und griff nach Hunter. Sofort fand sie ihn und umklammerte seinen Arm.
„Okay, ihre Art zu erzählen scheint anders als unsere zu sein", raunte er ihr zu und erst da begriff Jayda, dass Amber ihnen ihre Geschichte zeigen wollte. Allmählich verschwand ihre anfängliche Angst und Jayda sah sich neugierig im Wohnzimmer um. Erst da begriff sie, dass sie in eine andere Zeit blicken musste. Zwar war die Einrichtung gleich, aber alles wirkte, als wäre es in der Vergangenheit. Die Portraits an den Wänden, die heute nicht mehr dort hingen fielen ihr als erstes auf.
Da huschte auf einmal ein Schatten an ihr vorbei und als sie genauer hinsah, erkannte sie ein kleines Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, das an ihnen vorbeirannte. Vor dem Kamin, in dem ein knisterndes Feuer loderte, blieb sie stehen und blickte in Richtung der Tür. Ihr Atem ging hektisch, aber sie grinse und kicherte.
„Na warte, gleich habe ich dich", sagte eine weitere Stimme, ganz eindeutig Amber. Jayda blickte nach links zur Tür und sah Amber, die noch genau so aussah wie heute, nur nicht so geisterhaft. Auch sie grinste, ihre Zöpfe schwangen hin und her, als sie auf das jüngere Mädchen zulief.
„Hab ich dich", lachte sie, als sie das Mädchen umarmte und durch die Luft wirbelte. Vergnügt quietschte sie.
„Amber, können wir noch einmal zu dem Geheimversteck gehen?", fragte das Mädchen. Ambers Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und wich einem missmutigen Blick.
„Es ist gefährlich im Keller. Mutter möchte nicht, dass wir dort spielen", erklärte Amber ruhig, aber das Mädchen auf ihrem Arm zog eine beleidigte Schnute.
„Biiiiitte, ich möchte noch einmal die Kette umlegen", bettelte sie, woraufhin Amber sie auf die Füße stellte und ergeben seufzte.
„Na gut, aber wehe du erzählst deiner Mama, dass wir in den Keller gegangen sind", sagte sie. Natürlich schüttelte die Kleine sofort den Kopf.
„Na komm, aber danach machen wir deine Schreibübungen", sagte Amber, nahm die Hand des Mädchens und führte sie in Richtung des Flurs. Vor der Kellertür blieben sie stehen, anschließend streckte Amber sich und griff nach einem Schlüssel, der an einem Haken außer Reichweite von kleinen Kindern an der Wand hing. Es war ein großer, klobiger Schlüssel, der viel zu groß wirkte, um in die Kellertür zu passen. Aber er passte und Amber öffnete die Tür.
Es führte eine steile Holztreppe nach unten und als Amber den Arm durch die Tür streckte, zog sie an einer Kordel, die eine nackte Glühbirne zum Leuchten brachte.
„Vorsichtig, die Stufen sind wacklig", warnte Amber, bevor sie gemeinsam mit dem kleinen Mädchen in den Keller ging. Die Stufen knarzten unter ihren Füßen und schon bald hatten sie den Lichtkegel der Glühbirne verlassen.
Als sie am Fuß der Treppe angelangt waren, tastete Amber nach einer weiteren Kordel. Wieder erleuchtete eine Glühbirne und gab den Blick auf einen kleinen, modrigen Raum frei. Allerlei Zeug stapelte sich an den Wänden, sodass nur in der Mitte ein kleiner Bereich frei war. Der Boden war aus blankem Beton, der jedoch von Rissen durchzogen war. Genau in der Mitte befand sich ein Abfluss, aus dem ein übler Geruch aufstieg.
„Mach die Geheimtür auf!", forderte das Mädchen aufgeregt. Amber nickte, bedeutete ihr mit einer scheuchenden Handbewegung, dass sie auf Seite gehen sollte und kniete sich anschließend auf den Boden. Sie schob die Finger in eine der Ritzen und hob schließlich eine der Betonstücke aus dem Boden. Es war nur etwa so groß wie ein Handteller, aber durch das entstandene Loch konnte sie ein größeres Bruchstück herausnehmen. Es sah sehr anstrengend aus und sicherlich wog dieses dicke Betonstück eine ganze Menge. Mühsam hievte Amber das Stück beiseite und grinste zufrieden.
„Bitte sehr, die geheime Kammer von Blackwood Manor", verkündete sie. Das Mädchen lachte vergnügt und kletterte rückwärts in das Loch hinein. Amber griff nach ihrem Arm, um sie zu halten.
„Lass los", forderte sie und als Amber es tat, plumpste das Mädchen ein kleines Stück in die Tiefe. Das Loch war etwa eineinhalb Meter tief, tief genug, damit das Mädchen ganz darin verschwand.
„Und? Hast du die Kette gefunden?", rief Amber ihr zu und trat einen Schritt näher an das Loch heran. Was sie allerdings nicht bemerkte, war, dass sich das Betonstück, das sie an den Krempel gelehnt hatte, ein kleines bisschen bewegte.
„Ja, schau mal, wie hübsch ich bin", rief die Kleine. Anschließend erschienen ihre Hände, die sich an der Kante festkrallten.
„Warte, ich helfe dir", sagte Amber, kniete sich hin und griff nach ihren Armen. Allerdings war es schwerer als gedacht, die kleine Rachel aus dem Loch zu ziehen. Steinchen bohrten sich in ihr Knie und sie stellte ein Bein auf, um mehr Kraft zu haben. Allerdings rutschte ihr Fuß über die kleinen Steinchen auf dem Boden, sodass sie das Gleichgewicht verlor und mit dem Fuß gegen das große Betonstück stieß. Amber sah erschrocken auf, als die das Stück erst langsam, dann immer schneller bewegte. Es kippte mit einer unglaublichen Geschwindigkeit um und noch bevor sie irgendwie hätte reagieren können, knallte das schwere Betonstück auf Rachels Kopf und begrub sie unter sich.
Amber wusste, dass Rachel tot war, sie hatte das Knacken ihres Schädels gehört, als sie getroffen worden war. Panisch überlegte sie, was sie nun tun sollte. Unwillkürlich schob sie die Platte ein Stück weg, damit sie in das Loch hineinsehen konnte. Auch wenn es dunkel war, erkannte sie, dass sich bereits jetzt um Rachels kleinen Kopf eine riesige Blutlache gebildet hatte. Sie lag auf dem Rücken, die Ärmchen neben dem Kopf wie ein schlafendes Baby und die Augen schreckgeweitet. Allerdings starrten sie in die Leere. Dieser Blick verriet Amber noch viel mehr als die immer größer werdende Blutlache, dass sie Rachel nicht mehr helfen konnte.
Amber wusste, dass das hier niemals irgendjemand erfahren durfte. Sie würde einfach behaupten, Rachel sei niemals bei ihr angekommen. Sie handelte instinktiv, konnte nicht reflektieren, was sie da tat. Sie rückte unter Mühe das Betonstück an Ort und Stelle, setzte das kleinere Stück ebenfalls ein und verschloss somit Rachels Grab.
Allerdings würde sie niemals diesen Anblick vergessen, das kleine Mädchen mit leuchtenden Augen, weil sie die alte Kette aus dem Geheimversteck tragen durfte. Amber keuchte, Panik machte sich in ihr breit und ihr Körper befahl ihr, zu fliehen. Allerdings hielt sie ein unheimliches Geräusch davon ab. Ein Lachen. Ein tiefes, grollendes und hässliches Lachen. Damals hatte sie noch nicht gewusst, dass in diesem Moment Alastor zu ihrem Begleiter geworden war.
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Amber
HorrorJayda und Hunter, zwei siebzehnjährige Ausreißer, finden Zuflucht in einem verlassenen Herrenhaus. Blackwood Manor, ein im Wald gelegenes, beeindruckendes Anwesen ohne Strom und Wasser wird bald ihr Zufluchtsort. Allerdings dauert es nicht lange, bi...