Enrico
Ich gehe schwerfällig die Treppen hinunter zu meinem Büro. »Signore, was ist passiert?«, fragt Elena geschockt und ängstlich. »Nichts, es ist alles gut.« Sie will zwar weiter fragen, doch ich laufe einfach weiter. Als ich mein Büro betrete, schließe ich die Tür hinter mir und lasse mich in meinen Schreibtischstuhl fallen. Ein Gefühl der Leere erfüllt mich, und ich stütze meinen Kopf in meine Hände. Die Worte von Ginevra hallen in meinem Kopf wider.
Du bist ein Monster, Enrico
Sie schneiden tiefer in meine Seele als jede Kugel es je könnte. Ich kann nicht leugnen, dass sie mich verletzt haben, mehr als ich zugeben möchte. Meine Gedanken wandern zurück zu meiner Kindheit, zum Verlust meiner Eltern in jungen Jahren. Ich musste früh lernen, dass Vertrauen ein Luxus ist, den ich mir nicht leisten kann. Die Welt der Mafia war ein kaltes und erbarmungsloses Universum, und ich musste lernen, mich darin zu behaupten. Aber trotz allem habe ich versucht mich zu ändern. Nach dem Aria mich auch betrogen hat, wurde ich komplett kalt und hasste die Liebe.
Es gibt keinen Ausweg aus diesem Leben, das mich verschlungen hat. Ich bin ein Monster.
Ein bitteres Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, als ich erkenne, dass der physische Schmerz, den ich gerade fühle, nichts im Vergleich zu dem ist, was mein Herz durchmacht.
04:20 Uhr
Ich habe die ganze Nacht gearbeitet, Verträge geprüft, Anrufe getätigt und Krisen gemanagt. Doch selbst die anspruchsvolle Arbeit kann meine Gedanken nicht vollständig von Ginevras Worten ablenken.Ich stehe auf, strecke mich und spüre die Anspannung in meinen Muskeln. Ich verlasse mein Büro und gehe in die Küche. Das Haus ist still, die Dunkelheit der Nacht beginnt langsam der Dämmerung zu weichen. Ich öffne den Kühlschrank, hole mir eine kalte Wasserflasche und nehme einen langen Schluck.
Mit der Wasserflasche in der Hand gehe ich die Treppen hinauf ins Schlafzimmer. Die Tür öffnet sich leise, und ich sehe Ginevra, die im Bett liegt. Ihre Atmung ist ruhig, schläft. Für einen Moment bleibe ich in der Tür stehen und betrachte sie. Ich lege die Wasserflasche auf den Nachttisch unf setze mich auf die Bettkante. Der Raum ist still, und ich frage mich, wie es so weit kommen konnte.
Mit einem tiefen Seufzer lege ich mich neben sie, ohne sie zu berühren.
—
Minuten vorgehen, und ich liege wach, unfähig, in den Schlaf zu finden. Plötzlich bemerke ich, wie sich Ginevra neben mir hin und her bewegt. Ich richte mich auf und schaue sie an. Ihre Stirn ist leicht gerunzelt, und ihre Bewegungen sind hektisch. »Ginevra?«, flüstere ich und lege eine Hand auf ihre Schulter. »Nein, Mama.. lass mich nicht alleine..«, murmelt sie. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, und Tränen laufen ihre Wangen hinunter. Schlagartig setzt sie sich auf und sie atmet schwer. Ohne zu zögern, nehme ich sie in meine Arme, jedoch lässt sie es nicht zu. »Lass mich los! Ich will sterben!«, schreit sie und weint. »Sssht, Ginevra«, sage ich leise, während ich sie fest an mich drücke. Gottseidank, sagt sie diesmal nichts. Sie zittert und weint heftig, und ich halte sie noch enger. »Tak bardzo ją kocham«, flüstert sie, jedoch kann ich sie nicht verstehen.
Wir sitzen lange so da, während sie weint und ich sie halte. Die Welt um uns herum scheint für einen Moment stilltzustehen. Als ihre Tränen allmählich versiegen, lockert sich mein Griff etwas, aber ich lasse sie nicht los. »Ist alles in Ordnung?«, frage ich. Sie nickt schwach, ihre Augen sind rot und geschwollen, aber ich sehe ein Hauch von Dankbarkeit in ihrem Blick. Wann hat mich jemand zuletzt, so getröstet? Ich war schon immer der Jenige, der trösten musste.
Sei es Aurora, meine Großmütter oder Tanten..
Ginevra steht schließlich auf und geht langsam zum Balkon. Ich schaue ihr hinterher und sehe, wie sie die Balkontür öffnet und hinaustritt. Sie braucht diesen Moment für sich, aber ich kann sie nicht allein lassen. Nicht in diesem Zustand. Nach einem Moment stehe ich auf und folge ihr. Sie steht am Geländer, die Arme um sich geschlungen, während sie in die Ferne starrt. Ich trete leise zu ihr und stelle mich neben sie. Wir schweigen beide eine Weile, und die Stille ist fast greifbar. »Es tut mir leid, dass du das durchmachen musst«, sage ich leise, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Ich wünschte, ich könnte dir den Schmerz nehmen.
Sie bleibt still, doch ich sehe, wie sich ihre Schultern entspannen. »Manchmal weiß ich nicht, wie ich weitermachen soll«, murmelt sie schließlich, ihre Stimme bricht fast. »Alles fühlt sich so leer an, ohne sie.« Ich lege eine Hand auf ihre Schulter, weshalb sie kurz zuckt. »Ich verstehe. Der Verlust eines geliebten Menschen hinterlässt eine Lücke, die nichts füllen kann.« Ginevra holt tief Luft und beginnt dann zu sprechen: »Niemand wusste, dass sie so krank war. Es war irgendeine Herzkrankheit, die keiner bemerkt hat.« Ihre Stimme zittert, und ich spüre den Schmerz, der in jedem ihrer Worte liegt. »Es war so plötzlich, so unerwartet«, fährt sie fort. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie weg ist. Sie war mein Fels, und jetzt ist sie einfach.. weg.« Ich ziehe sie sanft in meine Arme und halte sie fest.
Langsam löst sie sich von mir und blickt zu mir hoch. »Wieso bist du hier?«, fragt sie. »Wieso hörst du mir zu?« Ich erwidere nur ihren leeren Blick und sage nichts. Sie wischt ihre frischen Tränen weg und beruhigt sich langsam. »Trotzdem Danke«, bedankt sie sich und geht wieder rein. Als sie die Tür hinter sich schließt, überkommt mich eine Welle von Emotionen. Die Erinnerungen an den Verlust meiner Eltern und die damit verbundene Trauer und Wut steigen in mir auf. Ich habe mich immer als stark und unerschütterlich gezeigt, doch in diesem Moment kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Der Schmerz ist überwältigend, und für einen Moment fühle ich mich genauso verloren wie damals, als ich als fünfzehnjähriger Junge den größten Verlust meines Leben ertragen musste. Ich wische mir die Tränen aus den Augen, doch sie kommen immer wieder. Die Trauer, die tief ich tief in mir vergraben habe, bricht hervor und zeigt mir, dass selbst der härteste Mann verletzlich ist.
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La mia altra metà
Romance𝐆𝐢𝐧𝐞𝐯𝐫𝐚 𝐀𝐧𝐚𝐬𝐭𝐚𝐳𝐣𝐚 𝐕𝐞𝐧𝐭𝐮𝐫𝐢 ist die Tochter eines wohlhabenden Geschäftsmannes. Nach der Trennung ihrer Eltern lebt sie mit ihrer Mutter in Polen und führt dort ihr eigenes Leben. Doch als ihre Mutter unerwartet an einer Krankhe...