Jesus zwischen Christen und Juden

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Jesus zwischen Christen und Juden

Besser kann man es nicht sagen: Jesus steht zwischen Christen und Juden, und das im doppelten Sinn des Wortes. Er steht dazwischen als einer, der beide Religionen miteinander verbindet, als eine Art Brücke. Er steht aber auch als Hindernis zwischen Christen und Juden: als Stolperstein auf dem Weg zueinander. Machen wir uns diesen widersprüchlichen Tatbestand klar, bevor wir überlegen, ob es eine Möglichkeit gibt, mit dieser ungeheueren Spannung in einer für Christen und Juden hilfreichen Weise umzugehen.

Jesus: unsere Brücke zum Judentum David Flusser, der berühmte jüdische Jesusforscher, hat einmal ein kleines Büchlein geschrieben mit dem Titel: „Das Christentum -eine jüdische Religion!?" Ich denke, dass dieser Titel -auch wenn er in christlichen Ohren provozierend klingen mag -ziemlich gut den Punkt trifft. Der Kern des christlichen Glaubens ist jüdischen Ursprungs, sagen wir genauer alttestamentlich-frühjüdischen Ursprungs, und deshalb gibt es keine andere Religion, mit der wir Christen so viele Glaubensinhalte und Glaubenspraktiken gemeinsam haben. Man kann dies kaum besser ausdrücken, als es Johannes Paul II. bei seinem Besuch in der Synagoge von Rom im Jahr 1986 getan hat. Er sagt: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas Äußerliches, sondern gehört in gewisser Weise zum Inneren unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder, und so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder." Wenn wir nun weiter fragen, wer diese intime Verbindung hergestellt hat, durch wen das jüdische Erbe zu uns gelangt ist, dann muss die Antwort heißen: durch keinen anderen als durch Jesus Christus. Er ist das unumstrittene Zentrum christlichen Glaubens, und da er Jude war und den Boden jüdischen Glaubens nie verlassen hat, bekommen wir durch ihn Anteil an zentralen Inhalten der jüdischen Religion und werden in ein besonderes Verhältnis zum jüdischen Volk gestellt. Jesus ist wie ein Kanal, durch den wir an den jüdischen Lebensstrom angeschlossen sind oder wie eine Tür, durch die wir als Nichtjuden die jüdische Welt betreten. Die wichtigsten Glaubensinhalte, die wir vom Judentum empfangen haben und von denen sich dann zahlreiche weitere ableiten lassen, sind folgende:

• Als Christen glauben wir an den Gott Jesu. Dieser Gott ist kein Abstraktum, keine philosophische Idee, kein unbeschriebenes Blatt. Er ist der Gott Israels, der Gott, der dieses Volk erwählt hat und der sich in der Geschichte dieses Volkes zu erkennen gab. So glauben wir mit Juden zusammen an denselben Gott, auch wenn wir ihn im Unterschied zu Juden als Vater, Sohn und Heiligen Geist anbeten. Das mag im Zeitalter interreligiöser Verständigung nicht besonders revolutionär klingen, dennoch ist es alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Es geht ja nicht nur um Monotheismus, um die Frage des Eingottglaubens. Den teilen wir natürlich auch noch mit anderen Religionen. Es geht viel entscheidender um die Frage, wer dieser eine Gott in seinem Wesen ist. Anders ausgedrückt: Was macht den einen (numerisch) einzigartig? Für Juden und Christen besteht diese Einzigartigkeit darin, dass dieser Gott ein zutiefst personaler, ein leidenschaftlicher, ja liebender Gott ist. Die Göttlichkeit des Gottes Israels und des Gottes Jesu besteht gerade nicht darin, sich fein aus allem Irdischen herauszuhalten, unbewegt über den Dingen zu stehen, sondern sich aus Liebe auf die menschliche Geschichte einzulassen, sich berühren zu lassen, ja sogar: zu leiden! In diesem Sinn kann man meiner Meinung nach nur vom Judentum sagen: Wir glauben an denselben Gott. • Diese fundamentale Gemeinsamkeit im Gottesglauben zeigt sich auch darin, dass das Judentum die einzige Religion ist, mit der wir eine gemeinsame Heilige Schrift haben. Unser Altes Testament ist gleichzeitig die Heilige Schrift des jüdischen Volkes. Die Glaubenszeugnisse Israels, die in diesen Schriften gesammelt sind, nähren auch unseren Glauben. Selbst vom Neuen Testament bleibt nicht mehr viel übrig, wenn man daraus alle Anspielungen auf das Alte Testament entfernt. Natürlich stimmt es, dass Juden und Christen die heiligen Schriften Israels aus verschiedenen Perspektiven lesen: Juden durch die „Brille des rabbinischen Schrifttums", Christen durch die „Jesusbrille". Aber alle Unterschiede, die dadurch entstehen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir aus der gleichen Quelle schöpfen, dass wir durch die gemeinsame Wurzel miteinander verbunden sind. • Aus diesen fundamentalen Übereinstimmungen folgen unzählige weitere, die ich hier nur andeuten kann. So ist für Juden und Christen der Glaube -trotz der Einwände Martin Bubers -im Zentrum ein Vertrauensgeschehen zwischen Gott und Mensch und kein intellektuell-theoretisches Akzeptieren von dogmatischen Glaubenswahrheiten. Auch sind beide darin verbunden, dass sie sich durch ihre Feste an die geschichtlichen Heilstaten Gottes erinnern, weil sie glauben, dass die Liebe, die Gott damals erwiesen hat, ihnen auch heute noch gilt. Nicht zuletzt leben beide von der Hoffnung auf das göttliche Reich, in dem Gott seine Schöpfung erlösen und vollenden wird. Eine Diakonisse, die sich auf Pilgerfahrt im Heiligen Land befand, soll ihrem Pastor nach dem Besuch eines jüdischen Gottesdienstes gesagt haben: „Herr Pastor, das Halleluja, das haben die Juden aber von uns geklaut." Eine Geschichte, die schön zeigt, wie viel wir von Juden haben, und die noch „schöner" zeigt, wie sehr wir das vergessen haben.

Islam aus christlicher Sicht/ Kritik an die katholische Kirche teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt