11. Das Schwert

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Ich lag mitten auf einer Wiese. Langsam rappelte ich mich auf und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Verwundert blickte ich mich um, dann fiel es mir wieder ein: Ich hatte die gesamten Erinnerungen an Agrunus verloren. Doch sie waren zurück, da, wo vor der Ohnmacht nichts war, befanden sich jetzt wieder die zahlreichen Erinnerungen, die ich schon gesammelt hatte. Ich konnte mich sogar noch besser erinnern, als vorher. Ich konnte jedes Bild klar vor meinen Augen sehen. Wie ich die anderen in der Lagerhalle getroffen hatte, wie Sara einen Blitz auf Clara schleuderte oder wie Dawn es geschafft hatte, einen gesamten Raum nur mit Pflanzen zu erschaffen. Leider konnte ich auch die Zombies aus meinem Traum detailgetreu erkennen. Sie hatten mich zu sich gerufen, sie waren die Totenrichter.

Ich lief auf die Tür zu, sie war noch da. Doch als ich sie öffnete stand ich auf der anderen Seite der Wiese. Hier ging es nicht nach Agrunus, es war nur eine Tür, die in der Landschaft umherstand. »Ruhig Blut«, sagte ich mir, schloss die Tür wieder und öffnete sie nochmals. Wieder nichts. Mein Herz begann zu rasen. Was, wenn ich nicht zurück kam? Ich blickte zum Himmel: die weißen Wolken schwebten immer noch wie herrlich weiche Kissen an ein und derselben Stelle. Eine Sekunde flackerte die Hoffnung in mir auf, dass ich einfach die Zeit angehalten hatte, doch dann erinnerte ich mich an die Erklärung, dass, als die X-Dimension geschaffen wurde, die Zeit in ihr erstarrte. Deshalb waren die Wolken auch noch weiß. Seufzend ließ ich mich ins Gras sinken.

Ich hatte ein Problem.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Meine Hoffnung war auf den Nullpunkt geschrumpft. Ich öffnete wieder die Tür, immer wieder. Dann lehnte ich mich an sie und schloss die Augen. Leise Stimmen weckten mich aus meiner Starre. Vorsichtig spähte ich hinter der Tür hervor. Vier Gestalten in dunklen Umhängen standen davor. Die Vor-Tür zur Schule war offen, der Weg in die Schule frei. Die Umhänge wehten im Wind, obwohl kein Wind wehte. Sie sprachen leise, die kleinste Gestalt nickte den größeren zu. »Die Zeit ist gekommen! Die Schule hat sich beruhigt! Sie erwarten nichts. Noch ein paar Wochen, dann ist es soweit.« Die großen schienen mit der Auskunft zufrieden. Sie drehten sich um und holten ein Gläschen mit Portpillen hervor. Ich schnappte nach Luft, dieses Gespräch war bestimmt nicht für meine Ohren gewesen. Ich schlich um die Tür herum und stürzte in den Gang. Dann begann ich zu rennen, sie durften mich auf gar keinen Fall erwischen. Der Gang schien mir unendlich lang, die Schwärze wollte nicht enden. Endlich hatte ich die nächste Tür erreicht. Ich riss sie auf und sprintete weiter durch die Gänge. Ich keuchte und rang nach Luft, doch ich lief weiter. Ich rannte an der Cafeteria vorbei, langsam verringerte ich mein Tempo, bis ich schließlich stehen blieb. Keuchend ging ich zu unserem Zimmer. Ich riss die Tür auf und blickte in fünf verdutzte Gesichter. Katy, Moga, Zara, Loura und Dawn starrten mich an. Nur Clare war nicht da. »Wo warst du, Luna? Das Suchkommando hat dich nicht gefunden.« Dawn sah mich traurig an. »Ich dachte, du wärst für immer weg und würdest nie erfahren, wie leid es mir tut.« Ich betrachtete sie. »Schon gut! Ich verzeihe dir! Aber du musst mir versprechen, so etwas nie wieder zu tun.« Sie nickte erleichtert.

»Was ist eigentlich mit deinen Haaren passiert?«, fragte ich Dawn. Ohne meine Erinnerungen war es für mich normal gewesen, doch jetzt Dawn mit kurzen Haaren zu sehen war gewöhnungsbedürftig. »Naja, ich habe Mrs Lav gefragt. Sie meinte, das sei ganz normal. Wenn jemand der Magie freien Lauf lässt, verändert sie häufig das äußere.« Sie strich sich eine kurze, grüne Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wer hat mich eigentlich gerettet?«, fragte ich in die Runde. Katy schaute verlegen zu Boden. »Ich!« Ich blickte sie erstaunt an. Ich hatte nicht gewusst, dass ihre Gabe Heilung war. »Danke«, ich nickte ihr dankbar zu. »Es war nur Glück.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hatte ein Buch hier liegen lassen, also bin ich noch einmal hierher gekommen. Da sah ich Loura und dich am Boden liegen. Loura ging es gut, aber du warst tot! Dawn stand geschockt über dir! Ich hätte es fast nicht mehr geschafft.« Ich ging zu ihr und umarmte sie. »Ist doch egal! Du hast es geschafft, das ist alles, was für mich zählt.« Katy lächelte, antwortete aber nicht. »Hurra! Luna ist zurück.« Clare kam in den Raum gestürzt, ihr Gesicht war rot angelaufen. Unter ihrem Arm war ein schwarzes Bündel. Sie warf das Bündel auf ihr Bett und stürzte auf mich zu. »Geht es dir wieder gut?« Sie musterte mich, dann nickte sie. »Was ist das für ein Bündel, Clare?« Loura deutete auf den schwarzen Stoff. »Da ist mein Badeanzug drin.« Sie lief zu ihrem Bett und packte ihren Badeanzug in ihre Schreibtischschublade. Verwundert sah ich ihr zu. Warum versteckt sie ihren Badeanzug? »Wer kommt mit zum Abendessen?« fragte Clare, sie schien ablenken zu wollen. »Ich!« Als sie es gesagt hatte, knurrte mein Magen. Wie lange ich wohl nichts gegessen hatte? Wahrscheinlich vor meinem Tod. Es klang so merkwürdig. Auch Loura und Moga wollten mit zum Essen kommen. Dawn hatte schon mit Zara und Katy gegessen. Clare hakte sich bei mir ein. »Ich bin am verhungern!« verkündete sie. »Ich auch.« Loura rieb sich den Bauch. Ich stimmte ihnen zu. »Wir haben doch ab morgen jeden zweiten Tag Schwimmen, oder?«, fragte ich Clare, sie war so schwimmbegeistert, dass sie es mit Sicherheit wusste. »Ja, Montag, Mittwoch und Freitag«, antwortete sie mir. »Warum können wir keine Kampfkünste lernen?«, grummelte Loura und trat gegen die Wand. Ich antwortete ihr: »Vielleicht wollen nicht alle eine Wand verprügeln! Mmh, könnte das sein?« »Sehr witzig.« Loura schien es ernst zu meinen. »Um ehrlich zu sein, ich habe keinen blassen Schimmer! Aber es könnte doch sein, dass sie nicht wollen, dass ein Krieg beginnt! Wenn wir kämpfen können, dann...« Ich unterbrach mich selbst. Moga verdrehte die Augen. »Vielleicht wollen sie aber auch nur die Schüler ärgern! Wir hatten es auch, unter Wasser ist es super anstrengend, die Gabe zu benutzen.« »Das wird ja immer besser.« Loura moserte weiter, bis wir bei der Cafeteria angekommen waren. Dann hatte sie ein neues Thema gefunden. »Hast du eine Ahnung, warum Doktor Banter dein Buch nicht öffnen konnte?«, fragte sie mich. Ich dachte nach. Er hatte danach Giftblasen auf den Händen. »Nein, ich hab damit nichts gemacht! Du konntest es doch auch davor öffnen, ohne dich zu verletzen.« »Wie wäre es, wenn Doktor Banter böse ist und das Buch so eine Schutzfunktion dagegen hat! Was für ein Buch überhaupt?« Clare schien die Idee genial zu finden, doch ich hatte das Gefühl, dass es etwas komplett anderes war. »Ich glaube, das ist es nicht«, sagte ich ihr. Doch Clare schien es gar nicht gehört zu haben. »Also? Was ist das für ein Buch?« Sie blickte mich und Loura mit einer Mischung aus Interesse und Angst an. »Ich hab es von meiner Familie bekommen, es ist eine Art Notizbuch«, erklärte ich ihr. Clare nickte, sie hatte verstanden. »Lasst uns etwas essen.« Das Thema war abgehakt.

Chroniken der Magie - LunaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt