4. "Huch."

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PoV Anouk

Wieder sah er mich an und ich bekam Gänsehaut davon.
Einer seiner Freunde war gegangen und nun saßen sie nur noch zu dritt am Tisch. Auch wenn der tätowierte Mann ebenfalls recht gut aussah, fesselte mich Lukas am Meisten.

"Mach mal den Mund zu, Schätzchen!" lachte meine Schwester und sofort brach der Blickkontakt ab und ich sah verlegen in mein Getränk, was mittlerweile pisswarm geworden war. "Der Typ hat es dir angetan, hm? Schön..."
"Er hat eine Freundin." sagte ich deprimiert und so teilte ich es nicht nur meiner Schwester mit, sondern auch mir selbst. Er hat eine Freundin.
"Die, die mit am Tisch sitzt?" bohrte Anissa nach.
"Ja." hauchte ich.
"Ach komm, die hässliche Kuh stichst du doch locker aus!" Sie versuchte mir Mut zu machen, doch sie löste damit wieder den Psycho in mir aus, der sich ritzte, umbringen wollte und ... aufgegeben hatte zu leben. Außerdem machte sie das Offensichtliche nur noch deutlicher: Die "hässliche Kuh" war alles andere als hässlich. Ihre hellblonden Haare sahen perfekt aus und auch ihr Körper zeigte keinerlei Makel. Ich verstand nicht, warum sie Lukas gestern so gegenüber getreten war - sie sah perfekt aus - warum machte sie sich Sorgen?
Das Winken der Hand meiner Schwester vor meinem Gesicht, zwang mich zu einer Antwort. "Früher vielleicht mal. Aber jetzt? Sieh mich an. Ich habe den Rock gekauft, weil das erste Mal, seit meinem Ex, mir ein Mann ehrlicherweise gesagt hat, dass ich hübsch aussehe. So verzweifelt bin ich schon!"
"Das hat er dir gesagt? Ehrlicherweise ?"
"Ja und weißt du, warum ich das weiß?"
"Nein."
"Weil ich weiß, wie sich jemand verhält der lügt, weil ich selbst nur noch getan habe seitdem Mama und Papa gestorben sind. Ich habe meine Freunde belogen, ich habe dich belogen, ich habe meinen Therapeuten belogen, ich habe mich belogen." Tränen fingen an, mir die Wange herunter zu fließen. Sie füllten meine Augen und ich wollte nur noch raus. Mir wurden Taschentücher gereicht.
Komischerweise beruhigte ich mich recht schnell wieder - zumindest zum Schein, sodass meine Schwester sich beruhigen konnte. Innerlich tobte in mir mal wieder ein Sturm, der alles mit sich riss, was sich ihm in den Weg stellte.

"Ich verschwinde mal kurz aufs Klo. Ist das okax?" fragte sie dann, als ich komplett aufgehört hatte zu weinen und wir unser lockeres Gespräch wieder aufgenommen hatten.
"Natürlich. Geh ruhig." sagte ich so falsch, wie schon oft und lächelte dabei.
"Gut. Bis gleich. Bestell dir ruhig was Neues." Sie zwinkerte und verschwand auf Toilette.

Kaum war sie weg, liefen mir wieder die Tränen aus den Augen und dieses Mal ergriff ich die Flucht, wie schon so oft. Ich stand von der Bank auf, rammelte aus Versehen gegen den Tisch, stieß dabei mein Glas um, was mich noch mehr zum Weinen brachte und rannte raus. Bog ab. Bog noch einmal ab und landete dann in einer dunklen Sackgasse, in der ich mich weinend auf die Knie fallen ließ. Wie gerne hätte ich nun mein Messer da gehabt. Nur für 1-2 Schnitte. Zum runterkommen.

Stattdessen berührte ich einfach nur die Narben, die mal größer und mal kleiner waren. Ich stoppte bei meinem allererster Schnitt. Er hatte die größte Narbe von allen hinterlassen. Einmal von der Armbeuge bis fast zur Handfläche. Übelkeit kam in mir hoch und ich bekam schon wieder Gänsehaut. Aber dieses Mal keine Angenehme. Ich übergab mich.

"Hey. Du hast doch eben noch drin gesessen, richtig? Du bist so hastig raus gerannt ... warum bist du hier und weinst?" Ein Mann kniete sich neben mich und berührte mich zum Glück nicht. Ich sah ihn an. In der Dunkelheit und durch meine verheulten Augen konnte ich kaum etwas erkennen, aber es war, wenn man eins und eins zusammenzählte, einer von den Männern aus dem Pub.

Als er sein Handy heraus holte und der Bildschirm sein Gesicht beleuchtete, erkannte ich ihn als den, der schon vor einer ganzen Weile gegangen war. Dieser Türke oder Albaner oder sowas. Südländer halt.
"Bist du nicht gegangen?" schniefte ich.
"Ja, aber meine Verabredung hatte dann doch keine Zeit mehr. Deswegen wollte ich eigentlich wieder zurück, aber dann bist du an mir vorbei gerannt."
"Warum bist du mir gefolgt?"
"Weil ein Freund von mir dich die ganze Zeit angesehen hat und ich dann einfach dachte, ... ähm. Hab mir Sorgen gemacht. Eine weinende Frau, die mitten in Berlin bei Nacht aus einem Pub flüchtet..."
"Hmm.. Danke oder was man da auch immer sagt." Dass er gemeint hatte, dass 'einer seiner Freunde' mich die ganze Zeit angesehen hatte, ignorierte ich vorerst.
Ich war ein soziales Wrack geworden, was man jetzt noch mehr merkte.
"Passt schon. Willst du dich mit zu uns setzen oder mal erzählen, was mit dir los ist?" fragte er immer noch besorgt.
"Nein, das geht nicht ... beides nicht. Ich kenne ja nicht mal deinen Namen. Außerdem - meine Schwester macht sich bestimmt schon Sorgen." lehnte ich ab. Mit diesem Lukas an einem Tisch sitzen, während seine Freundin und Freunde dabei waren - nein danke.
"Berkan. Ihr könnt euch bestimmt ruhig beide zu uns setzen. Wie heißt du eigentlich?" Er reichte mir seine Hand und als ich sie widerwillig ergriff, zog er uns beide hoch, woraufhin ich ungewollt ein kurzes "Huch." ausstieß, mich aber wieder fing und sagte: "Ähm...nein. Ich glaub wir fahren dann auch nach Hause. Ach .. äh .. Anouk."
"Exotischer Name." merkte er an, während er mir hoch half.
"Oh ja ... und deiner ist ja so deutsch." sagte ich und Berkan musste lachen. Anscheinend hatte ich mein altes Ich nicht komplett ausradiert. Schön.

Gemeinsam gingen wir zurück und ich wurde bereits von meiner panisch telefonierenden Schwester erwartet, während der Kellner neben ihr stand und Lukas und die Gruppe besorgt zu uns sahen. "Oh mein Gott! Anouk! Ich hab gedacht..." Sie legte auf und zerquetschte mich fast mit ihrer Umarmung. "Anissa, bitte. Nicht anfassen." flüsterte ich und befreite mich aus ihren Fängen.
"Kann ich euch allein lassen?" fragte Berkan noch und ich nickte. Noch einmal fiel mein Blick auf Lukas, der besorgt zwischen meinem Arm und meinen verheulten Augen hin und her.
Dann fiel mir auf, dass mein Ärmel des linken Armes eben hoch gerutscht war und somit die Wunde, in der immer noch die schwarzen Fäden steckten, entblößt worden war.
Schnell zog ich den Ärmel herunter und verdeckte das, was trotzdem noch zu sehen war, mit meiner Hand.
"Können wir bitte gehen?" bat ich dann meine Schwester, die natürlich zustimmte.


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