72. Zum Kotzen vertraut

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Pov Anouk

Innerlich schlug ich mich für meine wiederholte Feigheit. Warum hatte ich es ihm schon wieder nicht sagen können? Und wie sollte ich ihm morgen erklären, dass ich nicht zu meinem Hausarzt, sondern zum Frauenarzt musste?

Ein kalter Windzug wehte über meinen Körper und ich fröstelte. Lukas bekam ebenfalls Gänsehaut und ich fragte, ob wir uns nicht langsam mal auf den Heimweg machen wollten. Er stimmt mir zu und wir zogen uns an. Das halb verbrannte Tuch ließen wir zusammen mit den vollkommen sinnlos benutzten Kondomen zurück und während ich die Blumen trug, nahm er den Korb mit dem dreckigen Geschirr und den übrig gebliebenen Lebensmitteln.
Auf dem Heimweg kam mir andauernd ein ein bestimmter Gedanke: Warum hatten wir damals vergessen zu verhüten und wie dämlich waren wir eigentlich?
Dann auf einmal reichte es mir. Ich fasste allen Mut zusammen, holte tief Luft und ... musste würgen. Fuck! Warum ausgerechnet jetzt? Schnell machte ich das Fenster runter, lehnte mich heraus und kotzte. Lukas legte auf dem Seitenstreifen eine Vollbremsung hin und legte mir, als nur noch der Motor und mein Würgen zu hören war, tröstend eine Hand auf den Rücken. "Kann ich was für dich tun? Sollen wir lieber jetzt zum Arzt fahren?"
Kurz drehte ich meinen Kopf ins Auto und krächzte ein Ja. So hatte ich die Sache wenigstens hinter mir und vielleicht könnte er mir dann gleich ein Mittel gegen Übelkeit verschreiben.

Ich übergab mich noch einmal bevor wir weiterfuhren. Um den widerlichen Geschmack im Mund loszuwerden, spülte ich mir den Mund immer wieder mit dem letzten Bier aus, das ich während des Essens abgelehnt hatte. Solange ich es jetzt nicht trank, war ja alles okay.
Als die Flasche geleert war, schmeckte mein Mund nicht mehr so schrecklich nach Kotze und zum Glück auch nicht nach Bierkotze.

Nach einer ungewöhnlich schnellen Zeit konnte ich in eines der Zimmer gehen und dort auf den Arzt warten, der mich nach weiteren 10 Minuten Wartezeit freundlich begrüßte.
"Hallo! Dann sagen Sie mal was Ihnen fehlt."
"Ich bin vermutlich schwanger und habe große Bedenken, dass ich es aus Versehen umgebracht habe."
Der Arzt lachte und meinte, ich solle doch mal erzählen. Also erklärte ich ihm meine Situation und begann dabei natürlich zu weinen. Der Schmerz wegen Anissa war noch nicht besser geworden und erst recht nicht, wenn ich darüber sprach. Tröstend klopfte mir der Mann auf die Schultern und hielt mir Papiertaschentücher hin, die ich dankend annahm.

"..., dann musste ich eben im Auto brechen und habe mir mit Bier den Mund ausgespült, um den ekligen Geschmack von Erbrochenem loszuwerden. Deswegen auch die Bierfahne. Also denken Sie nicht, dass ich mehr getrunken habe, als das eine kleine Sektglas." sagte ich recht flüssig, da die Heulerei sich schnell wieder gelegt hatte, nachdem ich ihren Namen nicht noch einmal hatte sagen müssen.
"Und Sie sagen, dass der Vater draußen im Wartezimmer sitzt und denkt, es sei bei Ihnen nur eine Magenverstimmung? So eine Geschichte hab ich aber auch noch nie in meiner Laufbahn erlebt."
"Richtig. Ich habe oft versucht es ihm zu sagen, aber ich schaffe es nie."
"Ach was! Sie sind eine so starke, junge Frau! Ich bin mir sicher, dass er sich riesig freuen wird mit Ihnen eine Familie gründen zu können." Während wir uns unterhielten, machte er den nicht ganz so angenehmen Ultraschall, der bei ihm zum Glück ebenfalls möglich war. Der Ultraschall war in dem Sinne unangenehm, dass es einer von innen war. Nie hatte ich vorher gehört, dass man in den ersten Wochen und Monaten den Ultraschall in mir drin mit so einer Art länglichem Stab machte. Es war ein echt widerliches Gefühl und mit ihm mich dabei zu unterhalten machte die Situation noch mal einen Tick unangenehmer.
"Ich weiß nicht."
"Machen Sie sich wirklich keine Gedanken. Wenn sie sowieso mit ihm zusammenleben, dann wird er es doch sowieso früher oder später sehen. Sagen Sie es ihm jetzt, dann haben Sie eine Last auf dem Herzen weniger mit sich herumzutragen."
"Ja gut. Aber gibt es denn noch überhaupt etwas, was ich ihm sagen kann? Denn wenn..." Ich brachte den Satz nicht zu Ende.
"Also wie ich das sehen kann, haben Sie ihm ganz schön etwas mitzuteilen. Das Kind ist kerngesund, so wie ich das sehe. Herzlichen Glückwunsch." Er zog das Stab-Ding aus mir heraus, legte es zur Seite und ließ mich meine Hose wieder anziehen. Danach gab er mir noch ein Rezept für ein Mittel gegen Schwangerschaftsübelkeit und gab mir zum Abschied die Hand. Dabei schaute ich ihm nicht einmal mehr in die Augen.

Mein ganzer Körper zitterte, als ich einen Fuß vor den anderen Richtung Wartezimmer setzte. Wieder und wieder spielte ich im Kopf die mutmachenden Sätze des Arztes ab und konnte mich damit wenigstens ein kleines bisschen beruhigen. Außerdem machte ich mir ebenfalls klar, dass er mir niemals so helfen oder mich so ansehen würde, wie er es eben immer tat, wenn er mich nicht wenigstens ein bisschen lieben würde. Und ich liebte ihn ja auch. Wo lag also mein Problem? Erleichtert atmete ich aus, lächelte dabei, drückte die Türklinke herunter und trat in den Raum. "Lukas? Ich ..." Ich verstummte. Alle starrten mich an. Nur Lukas nicht. Warum? Weil er gar nicht mehr da war.

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