60. Am Boden angekommen

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Pov Anouk

Die Tage zogen an mir vorbei. Immer seltener verließ ich das Haus, bis ich es schließlich gar nicht mehr verließ. Draußen vor der Tür erwarteten mich sowieso nur traurige Blicke von Leuten, die mich und meine Schwester kannten, und ein überfüllter Briefkasten, der voller Karten war, die mir das Mitleid der Menschen verkündigen. Alles Heuchler.

Es war für mich gerade ein sterben auf Raten, gegen das ich mich nicht zu wehren versuchte.
Ich meldete mich auch nicht bei Costa oder Basti, geschweige denn bei Lukas. Die beiden wussten zudem immer noch nichts von Anissas Tod. Ich wollte Basti erst informieren, wenn die Beerdigung kurz bevor stand. Also heute. Heute war Tag 9. Morgen würde ihre Asche unter der Erde liegen und meine bald neben ihr.

Immer wieder spielte ich in meinem Kopf unsere letzten Tage durch und bereute all die dummen Dinge, die ich zum Schluss gesagt und getan hatte. Ich hasste mich so sehr dafür. So sehr.

Langsam schleppte ich meinen müden Körper zum Kühlschrank, um einen neuen Versuch, Essen in meinen Magen zu bekommen, zu starten.
Ich öffnete ihn, musste würgen und knallte ihn daraufhin wieder zu.
Mir war nicht so schlecht geworden, weil etwas verdorbenes darin war, sondern weil mein Magen schon seit einer Woche rebellierte und strikt jegliches Essen verweigerte, da ich entweder nachher oder sogar schon vorher würgen oder kotzen musste.
So ernährte ich mich nur noch von Wasser, was mir letztendlich dann auch egal war.

Mein letzter Freund, der mir geblieben war, interessierte sich offensichtlich auch nicht für mich, also war es mir auch egal, wie ich langsam zugrunde ging. Basti hatte mit seiner Band garantiert besseres zu tun und genug Stress an der Backe. Verständlich. Seine Band brachte ihm Geld und Ruhm - und ich? - Ich brachte ihm Kummer und Sorgen. Es wäre für alle eine Erlösung, wenn ich nicht mehr da wäre. War mein Gedanke, bevor ich mich wieder zurück in das Bett meiner Schwester begab, die letzten Reste ihres Duftes einsog, nur ungern wieder ausatmete und sie somit für immer gehen ließ.
Wie könnte mein Leben nur ohne sie weiter gehen? Nein, es geht einfach nicht.

Ich fuhr zusammen, als das schrille Geräusch unserer Türklingel erklang. Sofort vermutete ich unseren verdammten Briefträger, der sich vermutlich nur wieder wegen des überquellenden Briefkastens beschweren wollte.
Da ich für eine Moralpredigt eines Fremden weder die körperliche Kraft, noch die geistigen Nerven hatte, blieb ich vorerst einfach liegen. Was interessierte mich schon  diese heuchlerische Post, wenn ich mich morgen sowieso .... wenn ich alles morgen sowieso beenden wollte.
Es wird aufhören. Er wird gehen. Das Geräusch wird aufhören.
Das Geräusch hörte jedoch nicht auf.
Ich warf mir die Decke über den Kopf, presste sie auf meine Ohren und betete, dass er bald aufgeben würde.
Doch dann gab ich schließlich auf, warf die Bettdecke zur Seite und stapfte, wohl wissend nur Unterwäsche zu tragen, wütend zur Haustür.

Das Klingeln wurden mittlerweile von energischem Klopfen begleitet, was immer mehr Tritten gegen die Tür ähnelte. Mein Geduldsfaden stand kurz vor dem Reißen, weswegen ich mit letzter Kraft die Tür so aggressiv und schwungvoll es möglich war öffnete. Doch ich stand nicht vor dem Postboten. Ich stand vor dem panisch dreinblickenden Basti, der mich sofort hastig in die Arme schloss und fast zerquetschte. "Ich hab mir so Sorgen gemacht."
Ich schubste ihn weinend von mir weg. "Ach ja?! Warum bist du dann erst jetzt hier?"
"Weil ich erst jetzt erfahren habe, dass deine Schwester ... oh Anouk ... es tut mir so leid." Schon hing ich wieder in seinen Armen und wehrte mich dieses Mal nicht dagegen.
"Wie? Ich wollte es dir erst heute sagen."
"Du kennst mich doch, ich bekomme alles heraus." Konnte ich da etwa etwas weinerliches in seiner Stimme hören? "Ich hatte so Angst, dass du dir etwas angetan hast."
"Ach Quatsch."
"Nein ... nein." Er weinte tatsächlich. Warme, nasse Tropfen landeten auf meinem Shirt.
Schnell räusperte er sich, wischte sich die Tränen ab und tat so, als wäre er immer noch der härteste Kerl auf der Welt.

"Du siehst nicht gut aus."
"Ich fühle mich auch nicht gut."
"Ich weiß, wer dir helfen kann."
"Ich werde nicht zu einen verdammten Psychiater gehen, das ist jetzt verschwendetes Geld."
"Was redest du da? Ich meine keinen Psychiater! Ich meine ..."
"Nein!" protestierte ich gegen seinen Vorschlag, der mit großer Wahrscheinlichkeit auf Lukas hinauslaufen würde.
"Du weißt doch gar nicht, über wen ich rede!"
"Du redest über Lukas."
Verdutzt sah er mich an und grummelte. "Bitte geh zu ihm. Er hat etwas wichtiges für dich."
"Glaube ich wenig."
"Bitte, Anouk."
"Egal, was es ist. Ich brauche weder ihn, noch das, was er hat. Ende der Geschichte."
Ein Seufzen, damit war es tatsächlich erledigt, obwohl in meinem Kopf ein komplett anderer Dialog abgelaufen war, wie in Echt. In meinem Kopf hatte ich dem ganzen zugestimmt, da es mich neugierig gemacht hatte und ich somit eine Chance hatte ihm erneut näher zu kommen - irgendwie. Ein letztes Mal seine Nähe spüren, bevor es vorbei sein würde.

"Ich muss ehrlich sein - ich würde jetzt gehen, wenn du nicht so schrecklich aussehen würdest. So habe ich dich noch nie gesehen. Du musst hier weg oder die Sachen, die dir weh tun müssen von dir weg. Hast du eigentlich mal was gegessen?"
Ich schüttelte mit dem Kopf, als Antwort auf alles.
Ich wollte hier bleiben, die Sachen behalten und an meiner unfreiwilligen Diät verrecken.
"Sei nicht so stur. Lass mich wenigstens auf dich aufpassen. Bitte. So wie in alten Zeiten."
"Okay." Ich gab schneller auf als gewollt, was Basti aber sichtliche Erleichterung im Herzen verschaffte.
"Dann zieh dir was an und wir drehen eine Runde durch die Stadt."

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