102. Überraschungseffekt

102 11 6
                                    

Pov Lukas

Es gab kein Entkommen aus Berlin. Die Busse und Bahnen hatten ihren Betrieb eingestellt und davon sich mit dem Auto auf die Straße zu wagen, wurde dringend abgeraten. Dabei hatte ich mich schon so darauf gefreut gehabt den Verlust meiner großen Liebe mit dem Fest der Liebe einen Abschluss zu geben und mich zu betrinken, bis es nicht mehr wehtat. Aber da hatte mir der Winter einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Ich rief meine Mutter an, um ihr zu sagen, dass ich wohl erstmal nicht vorbei kommen würde.

Das Freizeichen erklang und recht schnell hob sie ab. "Hallo Lukas, mein Schatz. Frohe Weihnachten!"
"Hallo Mama. Dir auch, danke."
"Dankeschön. Aber weswegen rufst du an? Hattest du etwa einen Unfall?" Sie klang äußert besorgt.
"Nein, alles gut. Ich bin noch nicht einmal zum Losfahren gekommen und deswegen rufe ich auch an. Ich werde es wahrscheinlich nicht schaffen über die Feiertage zu euch zu kommen. Tut mir leid."
Mein schlechtes Gewissen nagte an mir, aber meine Mutter zerstreute es sehr schnell wieder. "Ach mein Schatz, das muss dir doch nicht leid tun! Ich bin sogar erleichtert, dass du bei dem Wetter das Auto stehen lässt, aber sag, kannst du wenigstens mit Basti oder einer Dame Weihnachten verbringen?"
Ein Schmerz machte sich in meiner Brust breit. "Nein, zu Basti kann ich nicht und mit Holly will ich nichts mehr zu tun haben."
"Wer redet denn von Holly? Diesen Namen wollte ich doch nie wieder aus deinem Mund hören! Nein, ich meine das Mädchen, bei dem du mich um Rat gebeten hattest. Wie hieß sie noch gleich...?"
"Anouk." krächzte es aus meinem auf einmal staubtrockenen Hals.
"Genau! Anouk. Geh doch zu ihr. Sie ist doch sonst auch ganz allein."
"Das habe ich auch schon überlegt, aber sie will mich nicht sehen."
"Papperlapapp! Niemand will an Weihnachten alleine sein. Steh ihr bei und achte auf die kleinen Dinge. Die machen am Ende viel glücklicher."
"Wie meinst du das Mama?"
"Tut mir leid, Lukas. Da kommt gerade dein Vater mit dem Weihnachtsbaum und da muss ich ihm helfen. Feiert schön. Hab dich lieb." Und schon hatte sie aufgelegt.
Mit offenem Mund starrte ich das Display meines Handys an. Was sollte das? Seit wann war meine Mutter so? Aber je länger ich darüber nachdachte, desto besser schien ihre Idee umsetzbar zu sein. Auf die kleinen Dinge achten... Ich sollte mit dem großen Trara aufhören und mich auf das besinnen, was uns beide helfen und glücklich machen würde - und nicht nur mich allein.

Hastig sprang ich auf, packte meine nötigsten Sachen ein, schnappte mir Geldbörse und Autoschlüssel und verließ mein Haus. Warme Decken lagen ebenfalls im Auto bereit, falls dieser Plan ebenfalls schiefgehen sollte und ich im Auto schlafen musste, wenn es kaputt gehen sollte - und das würde es bei dieser Kälte.

Ich gab Anouks Adresse ins Navi ein und fuhr los. Genauer gesagt kämpfte ich mit damit durch die glatten und verschneiten Straßen und betete, dass ich nicht sterben würde, bevor ich bei ihr ankam. Ruckelnd und nicht mehr weit weg von meinem Ziel, kam man Wagen schließlich zum Stehen und ging aus. Meine Versuche ihn zum Laufen zu bringen scheiterten. Mein Kopf knallte mit der linken Seite auf das Lenkrad und ich überlegte einfach wieder nach Hause zu laufen. Ich war zwar recht weit gekommen, aber sollte ich es als Zeichen sehen, dass mein Wagen es nicht mal bis vor ihre Haustür geschafft hatte? Da fiel mein Blick auf einen kleinen Kramladen, der gerade geschlossen werden sollte. Panisch stieg ich aus und schrie hilflos den Mann an, der am Zuschließen war.
"Na, Heiligabend ist aber mal wieder plötzlich gekommen, hm?" sagte er belustigt und machte keinerlei Anstalten das Gitter vor der Ladentür wieder hochzufahren.
"Es ist wirklich dringend und wird auch ganz schnell gehen!"
"Sorry, aber da hätten Sie 'ne halbe Stunde früher kommen sollen."
"Bitte!" Flehend sah ich ihn an. "Ich bin in Sachen Liebe unterwegs und brauche Sie, um das Mädchen meiner Träume zurück zu erobern." Sein Blick wurde nachdenklich. "Das Mädchen, das ich liebe, sitzt ganz alleine und hochschwanger Zuhause und kann nichts tun, außer ihre tote Familie zu betrauern. Bitte lassen Sie mich rein und ihr ein Geschenk kaufen. Ich geben Ihnen auch das doppelte vom Normalpreis!"
Genervt stöhnend sperrte er mir seinen Laden auf. "Aber wehe, wenn Sie nicht die Wahrheit sagen! Sie haben schneller ne Kugel im Kopf, als Sie gucken können."
"Danke."

Ein absoluter Kotzbrocken, aber immerhin kam er mir doch etwas entgegen, als er mir genau das passende Geschenk für Anouk reichte. "Hier. Darauf fahren die Weiber alle ab."
"Haben Sie auch noch Geschenkpapier?"
Er knallte eine Rolle auf den Tisch und grunzte widerlich. "Ich packe das aber nicht ein."
"Nein, kein Problem! Dann brauche ich aber noch ne Schere und Klebeband."
Immer noch vollkommen genervt, aber dennoch brav meinen Bitten folgend, holte er alles um was ich ihn bat.
Zum Schluss bezahlte ich satte 45€ für ihr Geschenk und die Dinge, mit dem ich es einpacken wollte. Aber ich hatte es dem Mann versprochen gehabt. Zwischen Dankbarkeit und tiefem Hass hin- und hergerissen verließ ich den Laden und vollendete das kleine und doch so perfekte Geschenk. Hoffentlich würde ich überhaupt dazu kommen es ihr schenken zu können. Denn wenn sie mich nicht wollte, war alles für die Katz'.

Nachdem ich mein Auto abgeschlossen hatte, lief ich los und kam schon nach fünfzehn Minuten bei Anouk an. In ihrem Haus war es komplett dunkel, aber dennoch klingelte ich. Und wieder. Und wieder. Und wieder. Niemand öffnete. War sie nicht Zuhause oder wollte sie vielleicht einfach nur allein sein? Beides machte keinen Sinn bis mir einfiel, dass der Friedhof ganz in der Nähe war. Klar! Wo sollte sie an Weihnachten auch sonst sein, als bei ihrer Familie?
Eilig fand ich Adresse des Friedhofs auf meinem Handy raus und stellte dort das Navi über Google Maps ein. Ich lief los.

Nicht mal zwei Minuten später sah ich sie dann. Es war zu einhundert Prozent Anouk - ich konnte es fühlen. Ja gut... außerdem erkannte ich sie an ihrem Gang. Erleichtert atmete ich aus und beschloss einen gewissen Sicherheitsabstand einzuhalten. Immerhin wollte ich sie nicht verschrecken und womöglich noch eine Faust im Gesicht riskieren. "Biegen Sie rechts ab." tönte es plötzlich extrem laut aus meinem Handy. Ich zuckte voller Schreck zusammen und sah, als ich um die Ecke lunzte, dass Anouk sich fragend umdrehte. Schnell presste ich mich an die Hauswand und stellte fluchend den Ton meines Handys aus. Danach nahm ich die "Verfolgung" wieder auf, bis wir am Friedhof ankamen.

Eine gute Stunde dauerte es, bis Anouk sich wieder auf den Rückweg machte. Ich war ihr wahnsinnig dankbar, denn mittlerweile drohten bei mir Körperteile abzufrieren, die definitiv nicht abfrieren sollten, wenn ich noch Kinder bekommen wollte. Verdammt - wieso musste es auch so kalt sein!
Doch für sie war es mir das alles wert. Sie sah so schön aus im Schein der wenigen Laternen.

Als sie ihr Haus betrat, wartete ich noch weitere fünfzehn Minuten und klingelte erst dann. Am ganzen Körper zitternd stand ich vor der Tür und konnte hören, wie im Haus gekramt wurde und wie Anouk daraufhin vor die Haustür trat. Doch warum machte sie nicht auf? Einen Spion hatte die Tür nicht, also konnte sie nicht wissen, dass ich es war. Noch einmal klingelte ich. Dann passierte alles auf einmal ganz schnell. Die Tür wurde aufgerissen, ich sah ihr verängstigtes Gesicht, etwas auf mich zurasen und dann, wie alles schwarz wurde.

Save meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt