Ich sehe mich selbst als kleines Kind mit meinem Bruder spielen, ich bin sechs und er acht, wir sitzen in unserem Zimmer und spielen ein Spiel, das wir selbst erfunden haben, die Süßigkeiten, die wir vorhin an der Tankstelle geklaut haben, liegen in der Mitte und wir sitzen uns gegenüber.
Wir stellen uns abwechselnd irgendwelche Fragen, kann der andere sie beantworten, darf er sich eine Süßigkeit nehmen.
Ich bin am verlieren, Nicki hat bereits sechs Bonbons vor sich liegen und ich nur drei, aber seine Fragen sind auch echt gemein, oder meine einfach zu leicht. Alle Süßigkeiten sind verteilt, ich habe fünf, Nicki acht. Ohne dass ich etwas sage, schiebt er mir zwei Bonbons rüber, jetzt hat er nur noch sechs und ich habe sieben. Ich quietsche glücklich auf und falle meinem Bruder um den Hals.
Eine Stimme riss mich ruckartig aus dieser schönen Erinnerung, mein Kopf fuhr herum und dann spürte ich zwei sanfte Hände, die mich auf die Füße zogen, ich spürte, dass es die Hände meines Bruders waren. "Komm Mesme." war alles, was er sagte.
Ich hielt seine Hand fest und ließ mich von ihm aus unserer heruntergekommenen Wohnung führen.
Eigentlich hieß ich Menesme, aber Nicki sagte immer Mesme sowie ich statt Nick, Nicki sagte.
Ich fragte nicht, wo er mich hinbrachte, ich wusste, dass wir wieder mit der Gang rumhängen würden, das war wesentlich besser, als den ganzen Tag in der Wohnung zu sitzen und sich zu wünschen, irgendwas alleine machen zu können, aber das war nun mal recht schwierig, wenn man blind war.
Vor zwei Jahren gab es an meiner Schule einen Unfall im Chemiesaal, der Lehrer hatte irgendetwas stehen gelassen, das mit einem grellen weißen Licht explodierte, als alle Schüler bereits draußen waren, außer mir. Das grelle weiße Licht war das Letzte, was ich gesehen hatte. Und was der Lehrer gesehen hatte, war Nickis Faust in seinem Gesicht. Ich lag einige Tage oder vielleicht sogar Wochen im Krankenhaus, keine Ahnung, ohne mein Augenlicht schien ich ein jegliches Zeitgefühl verloren zu haben.
Inzwischen hatte ich mich an die ständige Dunkelheit einigermaßen gewöhnt, einige Monate nach dem Unfall hatte Nicki beschlossen aus unserem Freundeskreis eine Gang zu gründen. Was irgendwie dadurch ausgelöst worden war, dass ich einmal abends allein draußen war und ein paar Mitglieder der berüchtigtsten Gang der Stadt meinten, mich rumschubsen zu müssen und ich, blind wie ich nunmal war, nur im Dreck liegen und mich treten lassen konnte. Damals beschloss Nicki unsere Gang zu Gründen, damit diesen Typen und auch allen anderen klar wurde, dass sie weder mich noch sonst jemanden, der meinem Bruder etwas bedeutete, so behandeln konnten, ohne dass es ernsthafte Konsequenzen nach sich zog. Denn wenn man allein stand, konnte man sich nicht so leicht gegen eine ganze Gang behaupten, wir brauchten unsere eigene Gang. Mein Bruder fand auch, dass diese Typen die Leute in unserer Stadt schon viel zu lange herumgeschubst hatten, ohne dass sie jemand zur Rechenschaft zog, oder jemand unsere Mitbürger vor ihnen beschützte. Wir mussten uns gegen sie behaupten können, aber dafür brauchten wir einen Grund zum Zusammenhalt, einen Anführer und entschieden mehr Anhänger. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem die Gang entstand.
Ich höre wie Nicki unseren Freunden seine Idee von der Gang mitteilt, ich höre zustimmende Laute und begeisterte Rufe. Ich sitze irgendwo hinter ihnen, in einem alten Ledersessel und irgendwann, als sie beschlossen haben die Gang zu gründen, ruft einer: "Aber wenn wir 'ne Gang sein sollen, brauchen wir einen Namen und mehr Mitglieder, sonst haben wir ziemlich die Arschkarte gezogen, gegen die anderen Gangs kommen wir sonst nicht an."
"Du hast recht Joe, wir brauchen einen Namen und einen Ruf, dann müssen nur noch die Leute von uns erfahren und dann wird es nicht lange dauern, bis sich einige uns anschließen wollen werden." Das ist mein Bruder, er klingt sehr zuversichtlich und ich vertraue ihm, in allem was er tut. Stille herrscht, alle scheinen nach einem Namen zu suchen, irgendwann höre ich eine Stimme, die meinem Bruder etwas zu flüstert, es ist Josh, ich kann gerade noch verstehen, was er sagt. "Lass sie einen Namen aussuchen." Dieser eine Satz bringt mein Herz dazu warm zu glühen. Ich merke, dass Nicki sich mir nun zu gewandt hat, er sitzt vor mir in der Hocke und nimmt meine Hände. "Hey Prinzessin, ich würde sagen, dass du den Namen geben solltest."
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Blind Junk Hood Girl
Teen FictionDie Welt durch Menesmes Augen sehen. Schwarz und dunkel. Aber ist die Welt wirklich nur schwarz und dunkel, wenn man blind ist? Oder entdeckt man vielleicht etwas, das Augen nicht erfassen können? Menesme sieht die Welt mit ganz anderen Augen, si...