Kapitel 46

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Kapitel 46

Das Verlorene

Ein warmer Luftzug wehte durch das geöffnete Fenster, plusterte die Vorhänge auf und trug das Rauschen der Bäume ins Zimmer, begleitet von einem leisen Nuscheln. Regina lag in Rolands Bett. In ihren Armen hielt sie die zerknautschte Bettdecke und bewegte ihren Kopf unruhig im Schlaf. Über ihre Lippen kamen ächzende Laute, leises Wimmern, das davon zeugte, wie sehr sich Morpheus Reich in einen Alptraum verwandelt hatte. Sie verzog ihr Gesicht zu einer Maske der Qual, während ihr Atem weiter anschwoll. Hastig hob und senkte sich ihre Brust, bewegte sich im hektischen Rhythmus ihres rasch schlagenden Herzens. Gefangen in ihren wirren Träumen, drehte sie sich auf die Seite, zog ein Bein an und knetete die Decke mit ihren Händen, als sie plötzlich ihre Augen aufriss und in die Leere starrte. Regina wusste nicht wo sie sich befand. Noch immer raste ihr Atem ihrem Herzschlag hinter her. Unfähig sich zu bewegen, konzentrierte sie sich auf ihre Atmung und zwang sich zur Ruhe. Sie schaffte es ein paar Mal zu blinzeln, um das dunkle Bild ihres Albtraums zu vertreiben. Nur allmählich verwandelten sich die grauen Palastmauern in die blau gestrichenen Wände in Rolands Zimmer. Die Stimmen in ihrem Kopf wurden leiser, schrumpften zu einem Wispern, ohne völlig zu verstummen. Bewusst tat sie einen kräftigen Atemzug. Rolands vertrauter Geruch, der in seinem Bettzeug festsaß, stieg in ihre Nase und beschworen angenehme Erinnerungen herauf. Für einen winzigen Moment zuckten ihre Mundwinkel und schafften ein zaghaftes Lächeln, als das Bild des Lockenkopfs in ihrem Verstand aufstieg, doch genauso schnell wie das Gesicht des Jungen erschien, verschwand es, als der Nachhall ihrer düsteren Erinnerung einen Knoten in ihrem Magen heraufbeschwor. Schwerfällig schwang Regina ihre Beine aus dem Bett und setzte sich auf. In ihren Händen hielt sie noch immer die Decke, knetete den weichen Stoff bewusst und versuchte das schäbige Gefühl des Schreckgespenst zu verdrängen. Die verschiedenen Gesichter, die sich im Schlaf auf ihre Netzhaut gemalt hatten, verblassten im Tageslicht, doch die Steine in ihrem Magen blieben. Ihr war, als ob eine eisige Klaue nach ihren Eingeweiden griff und erbarmungslos zudrückte. Regina versuchte die aufkommenden Tränen zu bezwingen, versuchte sich einzureden, dass sie in Sicherheit war und dass alles weit zurücklag, doch ihre eigene innere Stimme war zu schwach, um gegen die Lügen in ihrem Kopf anzusprechen. Sie beugte sich vor, stützte ihre Ellenbogen auf ihre Schenkel und versenkte ihr Gesicht in ihre Handinnenflächen. Abermals atmete sie bewusst ein und aus, als könnte der Klang ihres eigenen Atems sie beruhigen. Für einen Augenblick verharrte sie in dieser Stellung und ließ die Erinnerungen zu, welche sie so sehr quälten. Ihre Gedanken kreischten und höhnte gleichermaßen, wie das aufgebrachte Brausen auf stürmischer See. Reginas Hände begannen zu zittern, so dass sie schlussendlich ihr Gesicht aus ihnen löste und wieder nach der Decke griff. Plötzlich zuckte sie zusammen, als eine bekannte Stimme von draußen durch das Fenster nach innen getragen wurde. Sie verzog ihren Mund zu einem Ausdruck der Abneigung und glaubte, dass ihr Magen sich mit einer neuen Ladung Steine füllte.

„REEEEGIIIINAAAA?!"

Ein frustriertes Seufzen entfleuchte ihren vollen Lippen, als sie Snow vernehmen konnte. Schnell stieß sie ein Stoßgebet gen Himmel, dass ihre einstige Stieftochter nicht im Haus nach ihr suchen würde, doch ihre Hoffnung verwehte wie eine Kerze im Wind.

„Brüll nicht so, Snow. Ich mein, ich hab sie zuletzt im Haus gesehen."

Regina schnaubte verächtlich, als Little John ihren Aufenthaltsort verriet und hoffte, dass man nicht in Rolands Zimmer nach ihr suchen würde.

Seit Tagen hatte Snow sie in Beschlag genommen, hatte mit ihr bis spät in die Nacht und sogar bis früh in den Morgenstunden die Hochzeit geplant und vorbereitet. Mit jeder weiteren schlaflosen Nacht, bestürmten alte Zweifel ihr Denken.

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