Roots

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Tage später sehe ich mich zum ersten Mal im Spiegel. Blass und verheult, aber wenier kränklich. Ein guter Tag, um soziale Kontakte zu pflegen.

„Mein neuer Mitbewohner", Archie klopft Jug auf die Schulter. Ich schenke ihm ein aufrichtiges Lächeln. Ich bin froh, dass es funktioniert hat. Die beiden stehen auf meiner Veranda, um mich auf dem Weg zu Pop's abzuholen.


„Ein richtiger Männerhaushalt", lobe ich, „und ihr holt mich jetzt immer zusammen ab?"


„Wer wird nicht gerne von zwei jungen charmanten Männern zum Frühstück begleitet?", fragt Jug. Archies breitem Grinsen nach zu urteilen sieht er uns immernoch als potentielles Paar. Ich stoße ihm mahnend in die Seite und wir machen uns auf den Weg zum Diner. Es ist quasi ein Treffen mir zu Ehren. Eine Willkommen-Zurück-Party. Nach meiner mehrtägigen Abwesenheit tut es gut, frische Luft zu atmen und ein paar Meter zu laufen.
In meinem Posteingang hat sich Nachricht an Nachricht gereiht. Sie haben sich Sorgen um mich gemacht. Wollten mir Hausaufgaben vorbeibringen, als würde ich nicht durchschauen, dass das ein Vorwand ist. Sie haben beim Mittagessen zusammengessen und beratschlagt, was sie tun könnten.
Sie sind wohl zu dem Ergebnis gekommen, dass Essen noch nie das Ziel verfehlt hat. Und sie behalten recht. Fettiges Fast Food heilt alle Wunden.


Kevin, Betty und Veronica erwarten uns bereits. Nachdem sie mich mit Küsschen und Umarmungen begrüßt haben, quetschen wir uns zu ihnen an den Tisch und bestellen Pancakes und Shakes.


„Du siehst aus wie das blühende Leben", bescheinigt mir Kevin meinen deutlich frischeren Teint, „makellos."


„Danke", ich sehe verlegen aus dem Fenster, „das hier hat mir gefehlt."
Das hier und richtiges Essen. Die letzten Tage bestanden ausschließlich aus Daves Hühnersuppe.


„Gibts was Neues im Fall Jason?", frage ich beiläufig. Einstimmiges Kopfschütteln. Gut, dann hat das Internet nicht gelogen. Was treibt die Polizei die ganze Zeit? Es muss eine Spur geben.
„Denkt ihr, ich könnte mich mit Cheryl anfreunden?", sinniere ich nachdenklich und ertränke meine Pancakes in Ahornsirup. Jug wirft mir einen skeptischen Blick zu. Nach dem Motto: jetzt fragst du sie plötzlich? Aber das mit den Serpents ging ohne ihre Zustimmung?


„Du willst dich mit ihr anfreunden, damit sie dir erzählt, wie ihr Bruder gestorben ist?", fragt Veronica. Ich Verwunderung ist rührend. Sie sollte mich mittlerweile kennen. Ich gehe nicht über Leichen, wobei ich mir da seit dem Vorfall nicht mehr sicher bin, aber ich nehme vieles in Kauf. Im Namen der Wahrheit. So wird meine Biografie heißen. Die erfolgreichste Journalistin Amerikas. Irgendwann.


„Denkt ihr, dass würde funktionieren?", wiederhole ich meine Frage.


„Cheryl hasst dich", ruft Betty mir überflüssigerweise in Erinnerung, „die Ohrfeige?"


„Sie hat uns zur Beerdigung eingeladen. Und sich bei mir entschuldigt. Sie hat mir sogar eine Gute-Besserungs-Email geschickt."
Die anderen machen verwunderte Gesichter. Ja, ich war auch überrascht, als ich den Drei-Zeiler überflogen habe. Irgendwo zwischen der Hand voll Wörtern meinte ich, etwas wie Bedauern herauszulesen.


„Probiers", sagt Jughead achselzuckend, „mehr als schief gehen kann es ja wohl kaum."


„Das ist die richtige Einstellung", ich proste ihm mit meinem Vanilleshake zu.


„Ihr seid ja ein richtiges Dreamteam", Kevin zieht seine Augenbrauen misstrauisch zusammen, „spielt ihr mit uns? Oder ist das Kriegsbeil tatsächlich begraben?"


„Es ist zur Seite gelegt", korrigiere ich ihn, „man soll den Tag nicht vor dem Abend loben."
Anfangs dachte ich, wir würden uns zwangsweise gut verstehen. Denn wir kennen beide Geheimnisse, die wir unter allen Umständen vor den anderen verbergen wollen. Aber es ist nicht nur eine Zwecksfreundschaft. Alles, was ich zuvor nervig fand, finde ich jetzt eher unterhaltsam. Und wir sind uns so verdammt ähnlich, dass es manchmal fast gruselig ist.
„Wir geben eine fantastische Clique ab", befindet Veronica. Ich ignoriere das dringliche Vibrieren meines Handys. Aber es gräbt sich in meine Magengrube. Tief hinein. Ich weiß, von wem diese Nachricht ist. Sweet Pea versucht jeden Tag, mich zu erreichen. Ich öffne die Nachrichten und lösche sie, aber keine von ihnen beantworte ich. Ich kann nicht. Ich habe ihm absolut nichts zu sagen. Seit dem Vorfall muss ich wieder mit Nachtlicht schlafen. Mit einem gottverdammten Nachtlicht in Form eines kleinen Mondes. Wie ein Kind. Aber das wird er nie erfahren.


„Wow, warum das böse Gesicht?", Archie wedelt mit einer Hand vor meinen Augen herum.


„Ich musste gerade daran denken wie viele Hausaufgaben ich verpasst habe", lüge ich, „da werde ich Nächte dran sitzen."


„Ich helfe dir", verspricht Betty sofort. Ich wusste, dass sie das sagen würde. Ich wünschte, sie könnte mir in allem helfen. Mit Sweet Pea zum Beispiel. Ich ertappe mich dabei, wie ich unseren minimalistischen Nachrichtenverlauf durchscrolle, hoch und runter, immerwieder. Wie ich darüber nachdenke, was ich ihm schreiben könnte. Und es dann doch nicht tue. Ich finde nicht die richtigen Worte. Ich würde ihm gerne Vorwürfe machen, ihm gleichzeitig erklären, warum es mich so belastet und in einem dritten Atemzug versichern, dass das nichts mit meiner Serpent-Loyalität zutun hat. Wie schreibt man das in eine kurze SMS?


„Arbeitet deine Mum nicht mehr hier, Veronica?"
Komisch, dass mir das erst jetzt auffällt.


„Oh. Nein", sie wird rot und streicht sich ihr Haar zurück, „mein Dad wird aus dem Gefängnis entlassen. Vorzeitig."


„Das freut mich für dich", und was habe ich noch alles verpasst? Die Welt dreht sich wohl tatsächlich unbarmherzig weiter.


„Am Montag bin ich wieder in der Schule", sage ich entschlossen, „scheinbar gibt es eine Menge nachzuholen."


„Da ist sie wieder, die alte Eden", Kevin legt mir einen Arm um die Schulter und zieht mich zu sich heran, „wir haben dich vermisst."

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