Like Mother Like Daughter

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„Eden?", jemand berührt meine kalte Wange. Vorsichtig. Ich versuche, die Augen zu öffnen.


„Wieso braucht der Krankenwagen so lange?"
Eindeutig Veronica. Auch wenn ich ihre Stimme kaum erkannt habe. Sie klingt, als würde sie weinen. Sie klingt panisch. Ich brauche einige Sekunden, um mich daran zu erinnern, was passiert ist. Dann will ich mich aufrichten, will ihnen erzählen, dass jemand auf mich geschossen hat. Aber ich kann nicht. Du musst es ihnen nicht erzählen, Eden, sie sehen es.


„Er ist auf dem Weg", antwortet Archie. Sein Tonfall erinnert mich an den Tag, als ich mir den Arm gebrochen habe, während wir unerlaubterweise durch den Wald gelaufen und auf umgestürzten Bäumen herumgeklettert sind. Fred und Dave hatten uns mehrfach eingeschärft, es nicht zu tun und auf den Wegen zu bleiben, aber daran hielten wir uns vielleicht fünf Minuten. Ich stürzte, brach mir den Arm und Archie rief seinen Dad an.


„Warum ist sie nicht bei Bewusstsein?"
Bettys Stimme ist dicht an meinem Ohr. Ich stelle mir vor, wie sie neben mir kniet. Ich würde ihr gerne sagen, dass ich nichts spüre. Aber das ich hier bin. Das ich sie hören kann.


„Sie wird wieder", versichert ihr Kevin.



„Das ganze Blut, Kevin!", Bettys Stimme ist schrill, „sie hat so viel Blut verloren."


„Sie wird wieder", sagt Kevin, mehr zu sich als zu den anderen, und ich weiß, dass er Betty jetzt in den Arm nimmt. Ich will sie ansehen.


„Ich rufe meinen Dad an", sagt Archie entschlossen, „du solltest deiner Mutter Bescheid sagen, Betty."
Denn ich habe keinen Erwachsenen, den man anrufen könnte. Daves Handy ist seit Wochen tot. Ich wünschte, er würde herkommen und mich ins Krankenhaus begleiten. Er würde meine Hand halten und einen blöden Witz machen, weil er das immer tut, wenn er von seinen Gefühlen überwältigt wird.


„Okay", schluchzt Betty auf. Ich spüre, wie sie von meiner Seite weicht. Ich schaffe es unter größter Anstrengung, meine Augen einen Spalt breit zu öffnen. Ein stechender Schmerz durchzuckt meinen Kopf, aber ich kämpfe dagegen an.


„Hey", Kevin beugt sich über mich und sofort sind auf die besorgten Gesichter der anderen da. Betty und Veronica haben eindeutig geweint und auch Archie scheint nicht weit davon entfernt zu sein.


„Alles wird wieder gut!", versichert mir Betty und ich finde nicht, dass sie überzeugt klingt.


„Wer war das?", fragt Jughead. Wüsste ich auch gerne, Beanieboy. Wüsste ich auch gerne. Ich kann ihm nicht antworten. Er kniet neben meinem Kopf und fühlt sich schuldig. Das sehe ich ihm trotz durchdringender Benommenheit an.


„D-d-dave", ich ringe mir ein heiseres Flüstern ab. Sie tauschen verunsicherte Blicke, wissen nicht, ob ich mich nicht erinnere oder einfach nach dem Menschen verlange, der mir am nächsten steht. Veronica rutscht an mich heran und legt mir ihre warme Hand auf die Wange.


„Er kommt sicher bald zurück", sagt sie beruhigend, „und du wirst wieder gesund."
Ich höre Schritte, kann aber nicht einordnen, wie weit sie entfernt sind. Bettys panische Stimme, die immer- und immerwieder wiederholt „sie wurde angeschossen! Alles ist voller Blut!"
Ihre Worte machen mir Angst. Aber ich darf keine Angst haben. Ich suche Jugheads Blick.


„Die Sanitäter", höre ich Archie sagen, „endlich!"


„Ich fahre mit", sagt Jughead entschlossen, „Kevin? Könntest du dafür sorgen, dass mein Dad hiervon erfährt? Er soll wissen, wozu sein Schweigen führt."


„Natürlich. Wir sehen uns im Krankenhaus", jetzt erscheint Kevins Gesicht wieder in meinem Blickfeld, „du packst das, Eden."
Sie sind sich alle so sicher, während ich spüren kann, wie das Leben aus meinem Körper weicht. Wie das Blut aus der Wunde sickert. Wie die Kugel sich in mein Fleisch bohrt. Ein merkwürdiges Gefühl. Nach dem Tod meiner Eltern habe ich immer versucht, mir vorzustellen, wie es ist, erschossen zu werden. Aber es ist ein namenloses Gefühl. Man kann es nicht herbeiführen. Vielleicht ist es vorherbestimmt. Mein Schicksal, so zu sterben, wie meine Eltern. Sie haben ihre Mörder gesehen, ich muss in Unwissenheit sterben.
Noch bevor die Sanitäter uns erreichen, verliere ich erneut das Bewusstsein.



„Mum? Dad? Gibts schon Abendessen?"
Ich bin spät dran. Riley und ich haben und verspätet, weil wir in der flimmernden Sommerhitze die Zeit vergessen haben. Meine Haare sind noch immer feucht und kleben mir im Nacken, als ich meine Badetasche neben den Schuhschrank stelle, aus meinen Flipflops schlüpfe und für einen Moment vor dem großen Spiegel stehenbleibe, den Dad Mum zum letzten Hochzeitstag auf einem Flohmarkt in L.A. Gekauft hat. Ein großer runder Spiegel, umgeben von vielen kleineren. Er erinnert mich an einen Planeten oder das Sonnensystem. Meine Haut ist braun und sommersprossengefleckt. Je älter ich werde, desto mehr sehe ich aus wie meine Mutter, sagt Dad immer, wenn er mich ins Bett bringt.


„Mum?"
Ich gehe in die Küche. Auf dem Tisch stehen noch Reste vom Frühstück, das ich so überstürzt verlassen habe. Über dem Honigtoast schwirren kleine Fliegen. Skeptisch stoße ich die Tür zum Wohnzimmer mit dem Fuß auf und dann ist dort überfall Blut. Überall. Es sieht aus wie in diesen Filmen, die wir auf Übernachtungspartys heimlich gucken, weil wir zu jung für sie sind. Hierfür bin ich auch zu jung. Instinktiv suche ich im Raum nach einem Fremden mit einer Maske. Aber ich bin alleine.
Das heißt, ich bin nicht alleine. Meine Eltern sind auch hier. Über und über mit Blut bespritzt liegen sie nebeneinander auf dem wollweißen Teppich. Die Gesichter nach unten gedreht. Ich weiß sofort, dass sie tot sind. Ich weiß, was ich tun muss und ich folge den Schritten wie einer Gebrauchsanweisung. Klammere mich daran. Ich rufe die Polizei an und die nette Frau am anderen Ende der Leitung redet beruhigend auf mich ein. Sie sagt, ich solle aus dem Zimmer gehen, am besten aus dem Haus, und auf den Streifenwagen warten. Sie bleibt die ganze Zeit über am Telefon und erzählt mir von ihren Katzen und sie fragt mich, wie ich aussehe und wie ich den Sommer verbracht habe. Zwischendurch fragt sie, ob ich Geschwister habe und ob ich glaube, es sei noch jemand im Haus. Diese Fragen streut sie geschickt ein, sodass ich sie in kindlicher Unbedarfheit beantworte. Das, was passiert ist, dringt nicht in seiner vollen Schrecklichkeit zu mir durch. Ich denke mehr an den Tag am See als daran, dass meine Eltern erschossen worden sind. Hingerichtet.
Als die Polizei schließlich kommt, setzt mich ein netter Polizist in den Streifenwagen und gibt mir ein Ipad mit hunderten Spielen. Ich soll mich beschäftigen, sagt er freundlich, er kümmert sich um alles und informiert meine Großeltern. Ich tue, was er sagt. Realisere kaum, wie immer mehr und mehr Polizeiwagen vor dem Haus halten, in dem Polizisten ein- und ausgehen. Nachbarn drängen sich an den flatternden Absperrungen und als die Sonne langsam untergeht, tauchen meine Großeltern mit Dave auf. Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass Dave mich in seinen Wagen setzt, mich anschnallt und mir ein Päckchen Orangensaft in die Hand drückt.


„Wir schaffen das", sagt er, als wären die Tränen in seinen Augen nicht da. Seine Zuversicht lässt mich müde werden und ich schlafe ein, noch bevor wir die Straße hinter uns lassen. Mir ist nicht klar, dass das mein letzter Tag in diesem Haus gewesen ist. Das ich nie wieder in meinem Zimmer, nie wieder in meinem Bett schlafen werde. Das ich nie wieder mit meinen Eltern am Tisch sitzen und ihnen von meinem Schultag erzählen werde. Das wir nie wieder im Garten grillen und meine Freundinnen mich besuchen. Ich werde nie wieder an diesen Ort zurückkehren und das letzte, was ich gesehen habe, wird das sein, was mich für immer verfolgt. Blut, Blut, überall Blut.

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