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Ich öffne die Augen. Ich wünschte, ich müsste nicht. Aber etwas blendet mich. Ich bewege meine Beine, bewege meine Arme. Ich bewege meinen ganzen Körper und stelle mit dem Anflug von Erleichterung fest, dass ich mich noch bewegen kann. Ich drehe meinen Kopf zur Seite. Sweet Pea sitzt noch neben mir. Sein Kinn ruht auf seiner Brust und ich versuche angestrengt, Atembewegungen auszumachen.



„Sweets?"
Meine Stimme ist nicht mehr als ein raues Flüstern. Ich versuche, die Quelle des Lichtes ausfindig zu machen, das mich blendet. Es ist dunkel geworden. Ich taste nach dem Gurt und schnalle mich ab. Archies Wagen ist mit Sicherheit ein Totalschaden. Ich muss mich mehrfach gegen die Tür werfen, bis sie nachgibt und aufspringt. Laub knirscht unter meinen Schuhen, als ich aussteige. Wann ist es so dunkel geworden? Wie viel Uhr haben wir? Wie lange war ich ohnmächtig? Ich schütze meine Augen und blinzle in den Lichtkegel, der offenbar von einem Scheinwerfer kommt. Ich bewege mich darauf zu und kann nicht glauben, was ich sehe. Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein.


„Scheiße, scheiße, scheiße."
Ich stürze auf das zweite Auto zu, das nur Meter entfernt von unserem auf dem Dach in der Böschung liegt. Ich werfe mich auf der Fahrerseite auf die Knie und spähe durch das Fenster, in dem nur noch Glasüberreste hängen.



„Hallo?"
Man kann kaum etwas erkennen. Der Fahrer scheint nicht bei Bewusstsein zu sein.


„Hallo? Können Sie mich hören?!"
Ich strecke meine Hand ins Wageninnere und berühre den Fahrer an der Schulter. Behutsam. Nichts. Ich raffe mich auf, umrunde das Auto und kontrolliere die Beifahrerseite und die Rückbank. Niemand. Dann renne ich zu Sweet Pea, der ebenfalls noch nicht zu sich gekommen ist. Ich kontrolliere seinen Puls, finde ihn nicht sofort, werde unruhig und ertaste ihn schließlich doch noch. Äußerlich kann ich keine Verletzungen erkennen. Das muss nichts heißen. Ich taste nach meinem Handy. Es ist nicht da, wo es sein sollte und auch im Wagen finde ich es nicht. Ich sehe hoch zur Straße. Die Wahrscheinlichkeit, ein Auto anzuhalten, ist gering, aber ich muss es versuchen. Ich muss Hilfe holen.



Der Schock lässt mich rational denken. Kluge Entscheidungen treffen. Er lässt weder Verzweiflung noch Schmerz zu. Ich klettere die Böschung hoch, halte mich dabei an Dornensträngen fest, die sich in meine Handflächen bohren und blutige Schlieren hinterlassen. Auf allen Vieren erreiche ich die Straße, schwer atmend und adrenalingeflutet. Es ist totenstill. Hinter mir das Licht des Scheinwerfers. Vor mir eine dunkle Straße, auf der sich Bremsspuren erahnen lassen. Bis in die Stadt sind es sicher fünf Kilometer, mindestens. Selbst wenn ich sie laufen würde, es würde ewig dauern. Ich kann nur auf ein Wunder hoffen. Ich kann nicht ewig hier oben bleiben. Ich muss nach Sweet Pea und dem Fahrer sehen. Ich muss wissen, ob ich etwas tun kann. Ob sie schwer verletzt sind. Möglicherweise hat einer von ihnen ein Telefon dabei.



Ich habe keine Zeit, einen einigermaßen sicheren Weg zu suchen und rutsche die Böschung deshalb halb herunter. Dann stolpere ich durchs Unterholz zurück und durchwühle Sweet Peas Taschen. Sein Handy steckt tatsächlich noch in seiner Hosentasche. Und er hat keinen Entsperrungscode. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet er so vertrauensselig ist. Ich wähle die Notrufnummer und halte währenddessen Sweet Peas Hand, weil mir immer klarer wird, was ich getan habe und ich mit dieser Erkenntnis auf keinen Fall alleine sein will.


Die Frau, die den Anruf entgegennimmt, ist nett. Ich beschreibe ihr, wo wir von der Straße abgekommen sind und sie bittet mich, auch bei dem unbekannten Fahrer nach dem Puls zu tasten. Dieses Mal finde ich ihn sofort. Er ist schwach, aber er ist da. Sie bittet mich, an der Straße zu warten und verspricht, dass schnell Hilfe eintreffen wird.
Ich klettere ein weiteres Mal nach oben und laufe nervös auf und ab. Ich hätte auf ihn hören und anhalten sollen. Ich war nicht ich selbst. Dieses verdammte Urteil. Ich gehe Sweet Peas Kontakte durch und finde Jughead. Irgendjemandem muss ich Bescheid sagen und ich kann mir keine Telefonnummern merken. Ich drücke auf die Anruftaste und mein Herz beginnt zu rasen. Er nimmt ab.

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