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Harry

Louis lag mit den Füßen auf seinem Kissen und dem Kopf über der Kante hängend auf seinem Bett, als ich reinkam.

»Bitteschön«, sagte ich, als ich Louis eines der beiden Bücher in meiner Hand auf seinen Bauch warf. Er ächzte (obwohl das Buch wirklich nicht viel wog) und sah mich vorwurfsvoll an.

»Gewalt ist keine Lösung, Harry.«, beschwerte er sich und setzte sich gerade auf. Skeptisch nahm er das Buch, mit dem ich ihn abgeworfen hatte, in die Hand.

»Ich habe dir doch erzählt, dass wir nach den Ferien Romeo und Julia lesen müssen. Naja, und weil du ja jetzt mit Chemie durch bist und ich wirklich glaube, dass es dir nicht schaden kann, früher anzufangen, habe ich es uns beiden schon mal ausgeliehen.«

Er sah beleidigt aus. »Was soll das jetzt heißen? Es kann mir nicht schaden, früher anzufangen. Ja, ich weiß ja, dass ich dümmer bin als du, aber das musst du mir doch nicht so unter die Nase reiben!«

Beschwichtigend streckte ich einen Arm nach ihm aus. »Nein, ich habe es schon gelesen. Vor zwei Jahren, glaube ich. Deswegen.«

Zufrieden nickte Louis. »Okay, dann verzeihe ich dir die Unverschämtheit, Harry Styles. Aber ich habe wirklich keine Lust, dieses dämliche Buch zu lesen. Ich habe Ferien!«

Ich sah ihn verständnisvoll an. Aber wir beide wussten, dass er es gerade jetzt lesen sollte. Noch hatte er genug Zeit, um jeden Satz fünfmal zu lesen, falls das nötig wäre. Und ohne, dass ich etwas sagte, seufzte er.

»Also gut. Wenn ich dann weniger Stress nach den Ferien habe, dann okay. Ich hasse mein Leben. Sieh es dir an, dieses Buch wurde bestimmt vor dreihundert Jahren gedruckt! Und wann Shakespeare es geschrieben hat, will ich gar nicht erst wissen. Der hat ja so ungefähr in der Steinzeit gelebt.«

Mit einem sanften Lächeln schüttelte ich den Kopf. »Ja. So ungefähr.«
Ich ging zu meinem Bett, legte mich auf die Seite und schlug das Buch auf, um die ersten Worte zu lesen.

»Hey, Haz! Was machst du denn da?«, rief Louis empört und runzelte fragend die Stirn.

»Na lesen. Hast du nicht gerade gesagt, dass du jetzt auch anfangen willst zu les-«

»Ja, aber ich habe doch nicht vor, selbst zu lesen! Da könnte ich mich ja gleich für Ferienabschaffung bewerben! Na komm, steh auf, Harry. Komm her.«
Ich verstand überhaupt nichts. Trotzdem stand ich auf.

»Du brauchst dein Buch nicht, du kannst meins haben.«, sagte Louis weiter mit der Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Ich legte mein Buch weg, obwohl ich irgendwie nicht ganz kapierte.

»Aber wenn ich dein Buch nehme, hast du keins. Du willst doch lesen!«

»Wow, und ich dachte, ich wäre der Dumme von uns beiden.« Er legte sich flach auf den Rücken und rutschte ganz an die Wand heran. Dann klopfte er neben sich auf die Matratze. »Komm, Harry. Lies mir vor.«

Erst jetzt begriff ich und als erstes hielt ich es für einen Scherz. Aber Louis blieb still liegen und sah mich wartend an. Nicht auffordernd, eher bittend.
Und natürlich tat ich Louis den Gefallen.

Ich rutschte neben ihm auf die Matratze. Er hielt mir sein Buch hin, ich nahm es. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Louis die Augen schloss und einen der Arme stützend unter seinen Kopf legte. Ich brauchte ebenfalls noch einen Moment, bis ich komplett bequem lag. Louis' warmer Körper berührte meinen und an Schulter und Hüfte pressten wir uns regelrecht aneinander. Aber keiner von uns rückte weg, ich schätze, er fühlte sich so wohl wie ich.
Unwillkürlich dachte ich an die Nacht, in der ich hier geschlafen hatte. Eine ganze Nacht mit Louis in einem Bett. Ich zwang mich, die Erinnerung zu unterdrücken.

»Gut, Lou«, sagte ich, während ich das Buch aufschlug. Louis lächelte sanft mit geschlossenen Augen. »›William Shakespeare‹«, begann ich zu lesen, »›Romeo und Julia. Ein Trauerspiel. 1766.‹«

Louis

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich Harry endlich fand. Vielleicht fühlte es sich aber auch nur so lange an, weil ich aufgrund meiner neuen Entdeckung eine triumphale Laune hatte und ich es kaum erwarten konnte, es Harry zu erzählen.

Bei dieser Überlegung fiel mir auf, dass ich mich vor zwei Monaten noch nicht so leicht für etwas so Banales begeistert hätte. Vielleicht nicht mal vor zwei Wochen. Aber die Zeit zu Zweit allein mit Harry schien hier einiges mit mir zu machen.
War ja auch egal.

Jedenfalls fand ich Harry in den Kellerräumen. Eigentlich war ich noch nicht mal unten, aber ich stand oben an der Treppe; unten brannte das Licht und ich hörte Harry leise singen.

»Harry!«, rief ich schon, als ich die erste Stufe betrat. Schneller, als ich es mir zutraute, lief ich die Treppe hinunter. Ich bog schwungvoll in den beleuchteten Wäscheraum ab.

»Hey! Haz, ich habe gute Nachrichten.«
Mit einem ruhigen Lächeln sah Harry auf und sein Blick forderte mich dazu auf, weiterzureden. Und irgendetwas an ihm wirkte, als wüsste er genau, dass meine Nachricht ihn nicht groß überraschen würde. Vielleicht lag das daran, dass ich mit jeder meiner Erkenntnisse ungefähr drei Jahre langsamer war als Harry.
Er strahlte noch mehr Ruhe aus, indem er geübt und locker einen Berg Wäsche ordentlich zusammenlegte und auf einem der rein weißen Wäschetische stapelte. Diese Ausstrahlung sorgte dafür, dass auch ich mich ein wenig beruhigte.

»Ich habe etwas herausgefunden, Harry! Ich habe übrigens ewig gebraucht, bis ich dich gefunden habe. Naja, wie auch immer. Rate mal, was i- Warte! Ist das mein Shirt?« Das rote FC Arsenal Logo, das auf dem weißen Stoff unter Harrys Händen aufblitzte, hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Perfekt gefaltet legte Harry das Shirt, das zweifellos meins war, auf den bereits ziemlich beachtlichen Wäschestapel.

»Ja«, beantwortete er meine Frage simpel.

Mir klappte der Mund auf. »Du..legst meine Wäsche zusammen..?« Keine Ahnung, ob es eine Frage oder eine Feststellung war.

»Ja«, wiederholte Harry. »Nachdem du vorhin eine halbe Lebensspanne dafür gebraucht hast, die Wäsche einfach nur in den Trockner zu transportieren, wollte ich dir ein wenig Zeit und Arbeit sparen. Und außerdem musste ich sowieso meine eigenen Sachen runterbringen.«

»Wow, ähm...danke.« Ich wusste nicht wirklich, was ich dazu sagen sollte. Insgeheim war ich natürlich echt froh darüber, aber was war Harry für ein Mensch, dass er so etwas freiwillig machte? Beziehungweise aus purer Freundlichkeit?

»Keine Angst, das werde ich nicht immer machen. Ich kann dir zeigen, wie der Trockner funktioniert, dann bist du bald ein Meister im Wäsche waschen. Aber jetzt erzähl erstmal weiter.«

Ich musste wieder lächeln, als mir mein Plan einfiel.
»Ich habe mir etwas Wunderbares für uns beide heute Abend ausgedacht! Also, nicht wirklich ausgedacht, aber naja.«

Überrascht hob Harry die Augenbrauen. »Was?« Seine Stimme klang beinahe misstrauisch. Ich wusste nicht genau, was der Blick der grünen Augen bedeutete.

»Wir werden uns einen Film ansehen!«, erklärte ich begeistert. »Ich habe vorhin gesehen, dass in den Ferien nicht nur Samstag Filmabend ist, sondern wir jeden Abend in den Raum dürfen. Das wird viel besser als sonst, glaub mir. Wir haben Platz, wir sind nur zu zweit. Das wird gut!«

Jetzt lächelte auch Harry. »Das ist eine gute Idee – es wundert mich nur, dass du so lange gebraucht hast, um das rauszufinden.«

»Wenn du es schon wusstest, wieso hast du es mir nicht erzählt?«

Das Rosa, das sich auf Harrys Wangen legte, war so unscheinbar, dass ich es mir vielleicht einbildete. Er sah mir nicht in die Augen. »Ich wusste nicht, ob du das überhaupt in Erwägung ziehen würdest...mit mir einen Film anzusehen.«

Ich warf ihn mit der nächstbesten Socke ab. »Spinner. Ich dachte, wir wären jetzt Freunde.«

Strahlend sah er auf. »Ja, richtig. Freunde.«

One room • l.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt