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Louis

Ich sah Harry erst beim Abendessen wieder. Vorher hatte ich unser Zimmer nicht verlassen und er es nicht mehr betreten.

In den vergangen Stunden hatte ich ein paar ziemliche Fortschritte mit dem Lernstoff gemacht, auch wenn alles, woran ich wirklich gedacht hatte, Harry war. Ich wusste, dass wir reden mussten und ich wusste, dass ich reden wollte. Ich musste mich entschuldigen.
Aber genauso gut wusste ich, dass Harry jetzt wahrscheinlich nicht reden wollte.

Wie auch immer, das Abendessen war so oder so der falsche Ort dafür.

Zayn, Liam und Niall saßen bereits am Tisch, als ich den Speisesaal betrat. Ich sah keinen von ihnen an, als ich mich auf meinen üblichen Platz setzte. Ich hoffte, dass man mir meine vergangenen Tränen nicht ansah. In der Tischmitte stand eine Kanne des Traubensaftes, den Harry mir vorhin aufs Zimmer gebracht hatte. Den ich nicht angerührt hatte. Mit zittrigem Atem schloss ich die Augen. Wie viel ich darum geben würde, die Zeit um ein paar Stunden zurückzudrehen.

Erst als Harry in der Großen Tür auftauchte, und ich sofort meinen Blick von ihm abwandte, fiel mir auf, dass Niall sich komplett normal verhielt. Er starrte mich nicht funkelnd an oder mied es bewusst, mich anzusehen. Ich runzelte fragend die Stirn. Hatte Harry etwa nicht mit Niall geredet?

Harry setzte sich neben mich. Wie immer. Er sah starr auf seinen Teller und griff nach seinem Besteck. Es gab Blumenkohl mit scharfem Ingwercurry und ich wusste, dass Harry das Gericht hasste. Er hasste Schärfe. Er hasste Ingwer.

Still begann ich zu essen. Es schmeckte gut, wie immer – das Internat hatte gute Köche. Ich war dankbar dafür, endlich etwas essen zu können. Auch wenn ich nicht das Gefühl hatte, Energie zurückzugewinnen, wusste ich, dass es mir später beim Lernen helfen würde.

Ohne ihn anzusehen, spürte ich, wie Harrys rechter Arm zu meiner Seite so steif war wie mein linker. Bedacht darauf, dass unsere Ellenbogen sich nicht streiften, aß ich, während Liam, Niall und Zayn über den Gartendienst, das aufkommende Frühlingswetter und die Ferien redeten. Ab und zu fiel ein Wort zu Bio.

Was mich am meisten überraschte, war Harry. Ich warf ihm einen Seitenblick zu, um ungläubig dabei zuzusehen, wie er das Essen mechanisch und ohne Zögern in sich hineinschlang. Auch Niall sah Harry etwas skeptisch an.

»Seit wann kannst du das essen, ohne das Gesicht zu verziehen?«, fragte Niall grinsend und bewahrheitete damit meine Vermutung. Harry hatte ihm von nichts erzählt. Ich wartete, ob Harry etwas erwidern würde, aber er zuckte nur stur mit den Schultern, ohne das Essen zu unterbinden. Ich hätte mich am liebsten geschlagen.

Ich konzentrierte mich wieder auf mein eigenes Essen, auch wenn die Schuldgefühle in meinem Kopf sich überschlugen. Alles, was ich tun wollte, war Harry alles zu erklären und ihn in den Arm zu nehmen. Ich hatte keine Ahnung, was es bedeutete, dass er nicht mit Niall redete.

Ich griff über den Tisch und füllte mein Glas mit dem klaren Wasser. »Louis?«, Niall streckte mir seine Hand entgegen, »Krieg ich das nach dir?«

Ich nickte und reichte ihm die Kanne. Angespannt beobachtete ich, wie er sich eingoss, als wäre das Wasser eine tickende Zeitbombe. »Noch jemand? Zayn? Liam?« Beide schüttelten den Kopf und Niall drehte sich zu seinem besten Freund. Mit hochgezogener Augenbraue und Blick auf Harrys niemals ruhendes Besteck fragte er: »Harry?«

Aber Harry schüttelte den Kopf. Ich musste ihn ansehen. Erschrocken stellte ich fest, dass Tränen in seinen Augen schimmerten. Ich umklammerte meine Gabel fester und hoffte, dass es das Curry war. Meine Nase begann zu kribbeln und ich schluckte. Ich durfte nicht auch noch zu weinen anfangen.

Natürlich fielen auch Niall Harrys glasige Augen auf. Er griff nach einer von Harrys Händen. Harry presste seine Lippen aufeinander, als er Nialls Blick erwiderte. Ich konnte ihm ansehen, wie kurz er vor einem Zusammenbruch stand. Und es fühlte sich nichts schlimmer an, als zu wissen, dass allein ich dafür verantwortlich war. Meine Kopfschmerzen meldeten sich zurück.

»Alles okay, Harry?«, fragte Niall mit leichter Besorgnis. »Ist es die Schärfe oder..?« Den letzten Teil hauchte er in eigentlich nur für Harry hörbarer Lautstärke, aber ich beobachtete seine Lippen gut genug, um den Worten folgen zu können.

»Alles gut«, sagte Harry mit gebrochener Stimme. Seine Tränen waren noch leichter zu sehen als zu hören. Trotzdem ließ Niall zögerlich seine Hand los.

»Trotzdem Wasser, Harry?«, fragte Niall sanft. Er hielt die Kanne hoch und wartete auf eine Reaktion.

Harry schwieg zuerst, aber dann schien er zu beschließen, dass Niall sich wahrscheinlich zufriedengab, wenn er Harry etwas zu Trinken eingießen konnte. Ich zwang mich wieder, meine Aufmerksamkeit meinem eigenen Essen zu widmen.

Liam erzählte Zayn etwas über das Haus seiner Familie in Nordfrankreich, ich konnte mich nicht auf seine Worte konzentrieren. Ich spürte die Wärme von Harrys Haut neben meiner, aber er hatte sich noch nie so schmerzhaft weit entfernt angefühlt. Jede seiner Bewegungen wurde automatisch von meinem Gehirn aufgezeichnet. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn je so bewegungsarm gesehen zu haben. Ich verweigerte mir, in sein Gesicht zu sehen.

Als Harry sein Glas in die Hand nahm, konnte ich nicht anders, als zu bemerken, dass sie zitterte. Langsam führte er sein Wasser zum Mund. Seine Hand zitterte so stark, dass das Glas kurz und hell gegen seine Zähne stieß. Von dem klirrenden Geräusch aus dem Konzept gebracht, sah ich Harry direkt in die Augen.

Ich wusste nicht, was es war, das ihn erschreckte. Meine plötzliche Bewegung, der Augenkontakt oder der Fakt, dass er seinen Schmerz nicht ein Stück verstecken konnte. Aber seine Finger lockerten sich genug, damit das Glas fiel, das gesamte Wasser auf Harrys dünnem Pullover verteilt wurde. Keine Sekunde später zersprang das Glas auf dem Boden in eine unzählbare Menge an Scherben.

Geschockt sah Harry erst auf seinen Oberkörper, anschließend auf den Boden und das zerbrochene Glas.

Und dann verlor er die Kontrolle. Ein Schluchzen verließ seine Lippen dieselbe Sekunde, in der Tränen über seine Wangen liefen. Sein Blick streifte mich und wurde verzweifelt. Dann schob er in einer kratzenden Bewegung den Stuhl zurück und lief so schnell es ihm im Moment möglich schien auf wackeligen Beinen aus dem Saal.

Für einen Augenblick war ich so perplex wie alle anderen. Nicht nur Liam, Zayn, Niall und ich starrten unbewegt auf den Ort, an dem Harry bis eben noch gesessen hatte, sondern mit uns der halbe Saal. Die Scherben auf dem Boden glänzten im verschütteten Wasser.

»Was ist denn..?« Nialls verlorene Worte holten mich aus meiner Starre. Ich sprang auf und sah Niall hilflos an. Ich spürte meine Augen brennen.

»Das ist allein meine Schuld.«, versuchte ich ihm eine ausreichende Erklärung zu liefern.

Dann lief ich achtlos durch die Scherben, die Tür, den Gang in die Eingangshalle, und die Treppen hoch, um Harry zu finden.

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Bald wisst ihr alles über Harry :)

One room • l.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt