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Louis

Einen Platz im Gras zu finden, an dem sich keine anderen Schüler drängten, war schwerer gewesen, als ich erwartet hatte. Es war das gute Wetter. So mild die englischen Winter auch sein mochten, sie waren lang. Um Ostern herum schon warme Tage zu haben, war wie ein Traum.

Für mich war es ein absurder Fiebertraum. Mir erschien die strahlende Sonne nur wie ein herzloser Kontrast zu der Weise, wie mein Leben sich gerade in all seine winzigen Bestandteile auflöste. Die wiederbelebte Natur schien sich dem Verfall meines Lebens entgegenzusetzen.

Die Schulwoche war eine scheinbar ewige Qual gewesen. Sogar noch schlimmer als der endlose Unterricht, in dem ich mich auf nichts anderes hatte konzentrieren können als den Teufelskreis von Wut und Schmerz in mir, waren die Stunden gewesen, in denen ich neben Harry gesessen hatte. Wir hatten kein einziges Wort ausgesprochen, beide an den entgegensetzten Enden des Tisches, seine Schultern fast noch steifer als meine. Aber ich hatte seine Wärme gespürt, so sehr ich auch versucht hatte, so weit wie nur irgendwie möglich von ihm wegzurücken. Ich hatte seinen Atem gehört und zweimal auch die Tränen in seinen Augen gesehen.

Ich verstand nicht, wieso es so schwer war, jemanden zu hassen, der mich hintergangen hatte wie Harry. Wieso war Liebe hartnäckiger als Verrat? Wieso konnte ich meine verdammten Gefühle nicht ein einziges Mal unter Kontrolle haben?

So gut es ging, bemühte ich mich darum, ihn nicht sehen zu müssen. Es war leichter, auf ihn wütend zu sein, wenn mir seine heuchlerischen Tränen nichts vorgaukelten. Ein paar Mal hatte er nach der Schule versucht, mit mir zu reden. Ich war klug genug, um ihm nicht zuzuhören. Immer hatte ich ihn abgewiesen. Es war nicht schwierig in den Schulfluren, ich konnte einfacher vor ihm fliehen. Er würde nicht durch Gänge schreien. Mit Liam an meiner Seite versuchte er es erst gar nicht. Keine Ahnung wieso. Wahrscheinlich hatte er schon genügend Jahre damit verbracht, von Liam abgewiesen zu werden.

Liam war auch sonst eine Hilfe. Geduldig hörte er sich meine Stimme an, während ich über den begangenen Verrat zerfiel. Er hielt mich zurück, wenn ich kurz davor war, Stühle zu werfen. Er füllte Harrys Platz in einem Zimmer für Zwei aus, saß auf seinem Stuhl, damit ich ihn nicht leer anstarrte, bis mir schwindlig wurde. Er ließ mir Zeit alleine, wenn ich sie brauchte, so wie jetzt gerade. Aber am wichtigsten; er war wütend auf Harry. Er stand mir in dieser Sache nicht bei, weil er Mitleid mit mir hatte und mein bester Freund war, sondern weil er verstand, wie Harry mich verletzt hatte.

»Louis« Beim Klang der Stimme in meinem Rücken erstarrte ich. Das Buch in meinem Schoß war also kein Alibi gewesen, das gut genug war, um fremde Leute fernzuhalten.

Fremd. Kraftlos schloss ich die Augen. Ich wünschte, sie wäre eine Fremde.

»Hau ab.« Ich bemühte mich, endgültig zu klingen, aber in meinem Inneren kannte ich sie gut genug, um zu wissen, dass das lange nicht reichen würde, um sie loszuwerden.

Wie zur Bestätigung meiner Vermutung fiel sie neben mir ins Gras, ihre langen Beine vor sich ausgestreckt. »Gott, Louis, ich wette, das hast du in den letzten Tagen tausendmal zu hören bekommen, aber du siehst echt scheiße aus.«
Ich blinzelte ihr im Sonnenlicht entgegen. Natürlich wählte sie diesen Zeitpunkt, um wieder zurück in mein Bewusstsein zu spazieren.

Mit ihrem typischen selbstbewussten Grinsen strahlte Eleanor mich an. Ein Gesicht, das ich in den letzten Monaten ganz erfolgreich ausgeblendet hatte. Das hatte sich auch nicht ändern sollen. Aber hier war sie. Unerwünscht und unverschämt wie eh und je.

»Hau ab.«, sagte ich wieder und versuchte mich zum ersten Mal auf die Seiten des Schulbuches zu konzentrieren, als hätte ich schon die ganze Zeit darin gelesen.

One room • l.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt