Louis
Am nächsten Tag hatten wir auch um 11:30 Uhr das Haus noch nicht verlassen. Wir waren viel zu spät dran. Ich war mir ziemlich sicher, dass wir mindestens drei unserer beim Frühstück geplanten Vorhaben von unserer Liste streichen mussten. Das hatte ich Harry auch schon mitgeteilt. Aber bis auf ein leichtherziges Nicken hatte es nicht besonders viel Reaktion aus ihm herausgekitzelt.
Ich konnte es ihm nicht vorwerfen. Es ging mir genauso. Worum trauern? Ich würde garantiert nicht bereuen, wie wir unseren Morgen stattdessen verbracht hatten.
Mit einem Lächeln, das ich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr hatte verbannen können, zog ich mir zwei kurze, weiße Socken über die Fersen. Meine Fingerspitzen waren schrumpelig vom Wasser der Dusche. Aber das hatte man wohl davon, wenn man innerhalb einer Stunde gleich zweimal duschte – das erste Mal hatte nichts genützt, weil ich danach nicht mal bis zur Treppe gekommen war, bevor Harry mir meine Jeansshorts schon wieder ausgezogen hatte.
Aber dieses Mal würde es uns hoffentlich gelingen, das Haus zu verlassen. Ich war optimistisch. Genau deswegen hatten wir immerhin die Maßnahme ergriffen, beim zweiten Mal getrennt zu duschen. Jetzt musste ich also nur noch warten, bis Harry im Badezimmer fertig war. Er hatte die Tür offen stehen lassen – weil ich ihn mit tanzender Zunge gegen den Türrahmen geküsst hatte, als er nach meiner Dusche zum Ablösen mit einem Bündel frischer Kleidung hereinspaziert gekommen war – und jetzt hörte ich ihn zum Klang einer erfundenen Melodie unverständliche Worte singen.
Ich rappelte mich vom Rand der Matratze auf und ließ meinen Blick über die mitgenommenen Laken des Bettes gleiten. Vor etwas mehr als zwei Stunden, als Harry mich grinsend und warm atmend mit einer viel zu engen Umarmung geweckt hatte, hatte ich mir noch vorgenommen, das Bett später neu zu beziehen. Aber jetzt erschien mir das nur noch wie unnötige Zeitverschwendung. Ich würde heute Nachmittag einfach einen Zettel für Carys, unsere Putzfrau, liegen lassen, damit sie, im Gegensatz zu den letzten acht Monaten, mein Zimmer heute mal wieder mit in ihre Routine aufnahm. Mit einem kleinen Trinkgeld vielleicht.
»Hilfe, Louis!«
Überrascht wandte ich den Kopf in Richtung von Harrys Stimme aus reiner Überforderung und Hilflosigkeit. Was auch immer es war, das er im Bad als eine Gefahr einstufte; ich machte mir nicht allzu große Sorgen um sein Wohlergehen. Am ersten Nachmittag hier war er vor Schreck fast an die Decke gegangen, als das eingebaute Licht des Spiegels von alleine angesprungen war, ganz einfach, weil er sich weit genug vorgebeugt hatte. Trotzdem machte ich mich gemächlich auf den Weg zu ihm.
Für ein paar Sekunden dachte ich, es wäre wieder das Spiegellicht, das Harry aus der Fassung gebracht hatte. Mit einer Hand klammerte er sich ans Waschbecken, die Augen groß und rund auf sein Spiegelbild gerichtet. Doch dann sah ich seine zweite Hand; die Finger in entsetzter, federleichter Berührung an der weichen Haut seines Halses.
Harry hatte also einen Spiegel gebraucht, um eins und eins zusammenzuzählen. War ja klar gewesen.
»Louis!« Ohne den Blick von seiner Reflexion abzuwenden, drehte er den Kopf behutsam von links nach rechts. Doch die Variation des Lichteinfalls änderte nichts an seinem Anblick.
Ich grinste – ziemlich schamlos, um ehrlich zu sein. »Das gute Gefühl hat einen Preis, Harry.«
Er presste die Lippen aufeinander. Als wären sie magnetisch aneinandergebunden, konnten seine Finger sich nicht von dem Lila und Blau und Grau seines Halses lösen. Die Verfärbung erstreckte sich in verlaufenen Farbtupfern bis zu seinen markanten Schlüsselbeinen.
»Ich kann unmöglich einen Rollkragenpullover tragen. Oder einen Schal. Es ist warm draußen!«
Ich bezweifelte nicht wirklich, dass er in seinem 15-Kilo-Gepäck auch einen Schal und mindestens einen Rollkragenpullover mitgebracht hatte. »Keine Sorge, Harry.« Ich drückte ihm einen Kuss auf die hübsche Wölbung seines Ohrs. »Ich kann dir garantieren, dass du unter den 8 Millionen Menschen da draußen nicht der einzige sein wirst, der nach einem Samstagabend ein paar Knutschflecken hat.«
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One room • l.s
RomanceLouis' Eltern sind reich. Doch vermag es auch das Geld nicht, ihrem Sohn das schlechte Verhalten und die Kriminalität auszutreiben. So kommt es, dass sie beschließen, ihn auf ein Internat zu schicken. Louis hält nichts von dieser Maßnahme. Und als...