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Harry

Grauer Himmel umhing uns, als wir die U-Bahn-Station verließen. Den Namen hatte ich längst vergessen, obwohl sie die nächstgelegenste zu Louis' Haus war.

Ich richtete meinen Blick hoch in die Wolken, als wären sie endgültiger als meine Sehnsüchte. Das Gegenteil entsprach der Wahrheit. »Morgen um diese Zeit sitzen wir schon wieder im Auto für die Rückfahrt, nicht wahr?«, fragte ich bedauernd. Ich hatte Louis so oft versichert, dass alles an diesem Wochenende ohnehin mehr war, als ich jemals erwartet hätte, und das stimmte. Aber jetzt wurde mir langsam bewusst, wie wenig ich wollte, dass es zu Ende ging.

Louis' Stimme ließ keinen Zweifel zu. »Nein.«, versicherte er. »Wir werden so spät wie möglich losfahren. Ich will erst auf die Minute genau zur Nachtruhe da sein.«

Amüsiert dachte ich an all den chaotischen Verkehr, den ich die letzten Tage über gesehen hatte. »Viel Glück damit.«

»Hey«, er zog mich im Gehen an der Hand näher zu sich, »wir müssen wenigstens ein bisschen ausnutzen, dass du der Patensohn der Schulleiterin bist.«

Louis wusste nicht, wie greifbar dieses Ausnutzen wirklich war. Auf der einen Seite war mir bewusst, dass meine Chancen nicht allzu schlecht standen, Evelyn einfach anrufen zu können und um eine Woche Verlängerung unseres London-Aufenthaltes zu bitten; und damit Erfolg zu haben. Aber auf der anderen Seite war Evelyn eine gerechte Schulleiterin und würde sich dafür verurteilen, mir besondere Privilegien zu gewähren. Gleichzeitig würde sie vermutlich durchdrehen, wenn sie mich nicht bald zu sehen bekam. Seit drei Jahren hatte ich keinen Anfall mehr außerhalb des Internats gehabt – und der letzte war in Irland passiert, umgeben von Nialls Familie, die alle wussten, was zu tun war. Wir würden morgen zurückfahren müssen.

Ein leichter Windstoß fuhr durch meine Haare. »Darf ich dich was fragen?« Louis' Tonfall verriet, dass seine Gedanken in ähnliche Richtungen wie meine gewandert waren.

»Immer.«

»Wieso war Niall so dagegen, dass ich einen Krankenwagen rufe? Gestern Abend. Und so erleichtert, als er erfahren hat, dass ich es nicht getan hab?« Es war nicht schwer herauszuhören, dass die Frage Louis für eine Weile beschäftigt hatte.

Ich fror ein bisschen in dem kurzärmeligen Shirt und der dünnen Jacke, die ich trug. Keiner von uns hatte damit gerechnet, dass es sich tatsächlich noch so sehr zuziehen würde. »Es war eine der ersten Sachen, die Niall herausgefunden hat.«, begann ich ruhig zu erklären. »Innerhalb des ersten Jahres, in dem wir uns kannten. Damals wurde ich noch einfacher getriggert; öfter. Und vor allem waren wir noch nicht so gut darin, Gefahren zu vermeiden. Es war häufig noch sehr heftig in dieser Zeit. Niall hat viel miterlebt. Bald hat er verstanden, dass die Anfälle weniger stark sind, wenn ich beim letzten Mal möglichst gut durchgekommen bin. Dagegen war es umso schlimmer, wenn ich beim letzten Mal sehr viel Hilfe beansprucht habe – am allerschlimmsten, wenn ich ins Krankenhaus musste.«

»Niall hat gesagt, dass es war, weil der Krankenwagen nicht rechtzeitig da gewesen wäre.«, entgegnete Louis mit blassen Wangen.

Ich wiegte den Kopf ein paar Mal sanft hin und her. »Das hätte passieren können, wahrscheinlich aber nicht. Es ist definitiv nicht der Hauptgrund. Wie das mit meinem Bewusstsein in diesen Situationen funktioniert, ist schwierig zu erklären, Louis. Unmöglich zu verstehen. Sogar für mich. Ich kriege mit, was um mich herum passiert. Es hat sehr geholfen, als Niall das mit dem Krankenhaus erkannt hat. Eve und er haben begonnen, mir so gut es ging das Gefühl zu geben, alles alleine zu überwinden. Ich kann es nicht beschreiben, weil ich es nicht unter Kontrolle habe. Aber es ist wichtig. Ich fühle mich jedes Mal ein winziges Bisschen weniger hilflos.« Ich machte eine Pause und sah zu Louis hinüber. Nachdenklich hatte er den Blick auf das Pflaster vor unseren Füßen gerichtet.

One room • l.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt