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Louis

London, Stadt der Träume.
Als ich klein war, hatte es mich beeindruckt, wie poetisch die Zeile auf all den Postkarten klang. City of dreams. Es hatte mich stolz gemacht, in dieser Stadt zu leben.
Bis ich erfahren musste, dass jede zweite Stadt auf diesem Planeten mit mindestens 500.000 Einwohnern als Stadt der Träume bezeichnet wird. New York. Los Angeles. Mumbai. Shanghai. Barcelona. Städte der Träume. Ich könnte diese Liste ewig fortführen.

Igendwie war es so mit allem im Leben. Du magst etwas als besonders ansehen, doch dann öffnest du die Augen und erkennst, wie gewöhnlich es doch ist. Es gibt zu viele besondere Dinge, als dass es nicht etwas besseres gäbe, als was du dir gewählt hast.
Zumindest hatten mich das meine Eltern gelehrt.
Sei niemals mit dem zufrieden, was du bist und hast, Louis. Du lebst in London, Stadt der Träume? Davon gibt es Millionen. Schaff dir deine eigene Stadt, mache sie zur Stadt der Begierde. Was sind schon Träume?

Und das ist Teil der Geschichte, wie ich schon als kleines Kind komplett verkorkst wurde. Nur einer von vielen Gründen, wieso dieses Haus kein Zuhause für mich war.

In London sah man jedenfalls nicht viel von dem gefallenen Schnee. In unserem Villenviertel waren noch einige Dächer und Vorgärten weiß, aber das war's auch. Eigentlich war ich nie ein Fan von Schnee gewesen, doch ich wäre genau jetzt viel lieber an einem ganz bestimmten Ort, der förmlich im Schnee versank. Wieso musste dieses verdammte Internat auch zu Weihnachten schließen? Ich wäre jetzt gerne dort, wie in den Herbstferien. Zu zweit. Mit Harry. Auch wenn der jetzt auch bei sich zuhause war.
Aber ich wollte ganz einfach nicht hier sein.

Ich seufzte leise, als ich jetzt wohl oder übel die Decke zurückschlug. Ich konnte dem hier sowieso nicht entkommen.

Widerwillig stand ich auf, riss meine drei Fenster auf und ignorierte die Kleidung, die auf zwei Bügeln an meinem Schreibtisch hing. Stattdessen nahm ich mir eine einfach Hose und einen schwarzen Pullover von irgendeiner Band, die ich nicht mal kannte. Bemüht leise ging ich in mein Bad (es gab auch Vorzüge dieses Hauses) und stellte die Dusche an.

Ich blieb so lange hinter den verglasten Türen, bis mir von der Hitze schwindlig und meine Knie weich wurden.
Ich zog meine Badroutine so lang wie möglich, aber irgendwann beschloss ich einfach, dass es eh keinen Zweck hatte.

Ich wollte wieder in meinem Zimmer verschwinden, aber natürlich machte meine Mutter mir einen Strich durch die Rechnung. Überraschung. Natürlich tat sie das.

»Louis, ich kann dich hören. Na los, komm runter zu uns!«, rief sie mir von unten zu und ich wusste, dass mir keine Wahl blieb.
Auf geht's, 24. Dezember.

Meine Mutter drückte mich länger als gewöhnlich und danach durchbohrte mich ihr missbilligender Blick über meine Kleidungswahl, aber solange sie mich noch nicht dazu zwang, konnte ich noch tragen, was ich wollte.
Auch mein Vater umarmte mich, aber dann beschloss ich, dass es genug von all dem war und ging in das Esszimmer.

Ich ignorierte den Stapel Geburtstagspost und die zwei perfekt verpackten Geschenke meiner Eltern daneben. Ich setzte mich einfach an den langen Tisch und betrachtete das Essen. Geburtstagsfrühstück war dann doch eines der guten Dinge an diesem Tag.

Erst kurz bevor meine Großmutter kam, wurde doch dafür gesorgt, dass ich die gebügelte Jeans und das Hemd anzog.

Meine Gramms konnte wirklich schrecklich sein. Sie war eine dieser alten Frauen, deren Garderobe mehr wert ist als die Teppiche im Buckingham Palace und die einfach nicht einsehen wollten, dass jeder irgendwann mal sterben muss. Die letzten siebzehn Jahre – oh, Halt; ab heute achtzehn – hatte sie mit gefühlt nichts anderem verbracht, als mich auf meine – schlechte – Haltung hinzuweisen.
Sie war Anwältin für Erbrecht und wahrscheinlich die erfolgreichste jemals, was auch daher kam, dass sie die skrupelloseste Frau war, die ich kannte. Ich war mir ziemlich sicher, dass auf ihr der Spruch ›Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille – mit Anwalt drei.‹ beruhte, aber man konnte sich nicht vorstellen, wie viel Geld sich mit dem Tod anderer Menschen verdienen ließ.
Sie konnte manchmal auch ganz witzig sein und wir teilten die Gemeinsamkeit, dass wir ziemlich viel an meinem Vater nicht leiden konnten, was sie mir zuweilen wirklich sympathisch machte.
Allerdings hatte sie mich schon zu oft viel mehr wie einen Prozessgegner als ihren Enkel behandelt, weshalb ich mich ihr dann doch nicht so verbunden fühlte. Wie gesagt, ich hasse meinen Geburtstag.

One room • l.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt