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Harry

Mir war schwindlig. Nicht stark, nicht, dass ich umgekippt wäre, aber trotzdem  schwindlig. Ich versuchte den Schwindel so wenig zu beachten wie die Tränen auf meinen Wangen und das Brennen meiner Augen.
Stattdessen rannte ich mit voller Geschwindigkeit auf wackeligen Beinen den Flur entlang – Rennen war im Gebäude verboten.

Louis glaubte mir nicht. Er hatte die Wahrheit abgeschrieben. Er hatte mich aufgegeben. Es gab kein einziges Wort aus meinem Mund, das ihn umstimmen konnte. Es war wie ein Schlag in die Magengrube, oder eher ein Tritt, oder wahrscheinlich am ehesten ein Vorschlaghammer.

Es tat verdammt weh. Ich hatte die Sache mit der Liebe in den letzten Tagen so gut wie möglich ignoriert. Ich habe versucht, sie nicht an mich heranzulassen. Was half es mir, zu wissen, dass ich mich tatsächlich verliebt hatte? Liebe war nichts Gutes, nur etwas Mächtiges. Ich hatte nicht darüber nachdenken können und versucht, all das zu unterdrücken, das in mir unter dem neuen Titel so viel Sinn machte.

Noch schwerer war es gewesen, Louis die drei Worte gerade eben nicht einfach ins Gesicht zu schreien. Denn das allerletzte, das ich jetzt gebraucht hätte, wäre Louis' Anschuldigung, dass ich ihn versuchte, mit einer gelogenen Liebeserklärung zu manipulieren. Das wäre zu viel gewesen. Ich weiß nicht, wie ich das überlebt hätte.

Aber es war schlimm genug gewesen. Nichts, was ich tun könnte, hätte noch einen Effekt auf Louis. Außer, dass er mich für einen noch größeren Lügner halten würde. Deswegen musste ich jetzt auf die letzte verbliebene Möglichkeit zugreifen.

Ich hatte komplett Louis' Vertrauen verloren. Es gab nur noch eine einzige Person, der er glauben würde. Denn wenn er ihm nicht glaubte, machte seine Version der Dinge keinen Sinn mehr.

Ich blieb vor der Tür stehen, der allerersten im Jungstrakt. Ich hatte Angst. Wenn ich scheiterte, war ich verloren. Ich hatte keine Ahnung, was dann passieren würde. Aber ich durfte keine Angst haben. Mit meinem Ärmel wischte ich mir die Tränen vom Gesicht, zog die Nase hoch. Ohne zu klopfen trat ich ein.

Zayn saß im Schneidersitz auf dem Boden, der um ihn herum mit bunten Klebezetteln bedeckt war. Das einzig gute am Englischtest. Alle waren auf ihren Zimmern. Mein Kopf dröhnte.

Sein Mund öffnete sich überrascht, als er mich erblickte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich aussah, aber es konnte nicht großartig sein. Und abgesehen davon hatte ich Zayn in den letzten Tagen bewusst gemieden und von Angesicht zu Angesicht wiederholt abgewiesen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich freiwillig hier aufkreuzte. Denn ich war wütend auf ihn. Doch genau deswegen war ich hier.

Ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Ich wischte mir erneut über die Wangen. Ich hatte keine Zeit für Tränen.

»Es reicht, Zayn.« Ich sah ihn so entschlossen an, wie ich mich auch fühlte. Die Angst versuchte ich nicht zu zeigen.

Er zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Was reicht? Geht es dir gut, Harry?«

»Sehe ich so aus? Nein, es geht mir nicht gut! Willst du wissen, wieso? Ich denke, du könntest eine Ahnung haben, falls du dich noch vage daran erinnert kannst, wie du mich vor den Augen meines festen Freundes geküsst hast und danach so getan hast, als hätten wir eine Affäre miteinander!«

Er verdrehte überdramatisch die Augen. »Harry, Süßer, ich dachte, du wärst hergekommen, weil du endlich kapiert hast, dass ich dir einen Gefallen getan habe.«

»Du wirst jetzt aufstehen, Zayn, und Louis die Wahrheit sagen.«, ich ignorierte seinen Kommentar einfach. »Es wird Zeit. Du bist der einzige, der alles aufklären kann, also geh hin und sag ihm, was wirklich passiert ist!«

Zayn schüttelte den Kopf. Mit gelangweilter Miene löste er einen der Klebezettel und klebte ihn an eine andere Stelle. »Nein, Harry.«

»Doch! Steh auf, Zayn! Ich werde dich eigenhändig hinschleifen, wenn es sein muss.«

»Mach das, gerne, aber du kannst mich nicht zwingen, ihm die Wahrheit zu sagen. Du kannst mir nicht drohen. Was willst du tun, wenn ich nicht mache, was du sagst, Harry? Du kannst mich schlecht von der Schule schmeißen.«

»Du würdest staunen.«

Wieder verdrehte er die Augen. »Harry, offensichtlich hast du selbst noch keinen klaren Kopf über das alles. Geh zurück zu Niall und denk darüber nach, wie sinnlos es ist, Louis nachzutrauern. Oder bleib hier. Ich küsse dich jederzeit gerne wieder. Aber hör auf, mich anzuschreien.«

»Ich höre auf, dich anzuschreien, wenn du Louis die Wahrheit sagst!« Es war fast unmöglich, nicht durchzudrehen. Ich durfte nicht aufgeben. Ich konnte Zayn nicht gewinnen lassen. Zayn hatte die endgültige Kontrolle über alles. Er wusste es so gut wie ich.

Aber ich hatte keine Ahnung, was ich sagen konnte. Er hatte recht; ich konnte ihn nicht zwingen. Wahrscheinlich würde er sich wirklich eher von der Schule schmeißen lassen, als mich und Louis in dieser Sache gewinnen zu lassen.

»Hör zu, Harry«, Zayns Gesichtszüge glätteten sich wieder ein wenig, »Du musst endlich verstehen, dass Louis nicht richtig für dich war. Komm drüber hinweg und leb weiter. Ich habe dich nicht ohne Grund geküsst. Ich kannte dich nur ein paar Wochen und wusste, dass ich besser für dich bin als Louis. Glaubst du nicht, dass es genug aussagt, dass ihr euch nicht leiden konntet, als ihr euch kennengelernt habt?«

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du das Musterbeispiel eines Narzissten bist? Ich will nichts von dir! Die meisten Leute, die in einer Beziehung sind, werden dich nicht küssen wollen!« Ich wusste, dass ich mich in die Wut hineinsteigerte. Aber ich konnte nichts dagegen tun. »Hast du die Sache mit dem Kuss geplant? Wusstest du, dass Louis zurückkommen würde? Oder hast du ernsthaft erwartet, ich würde spontan daran Freude finden, Louis mit dir zu betrügen?«

Er zuckte die Schultern. »Natürlich wusste ich, dass Louis zurückkommen würde. Findest du es normal, wenn dich jemand vor einen Film setzt und dann geht? Ich wusste, dass er mich loswerden wollte. Und ich hatte viel nachgedacht. Über unser Gespräch an dem Tag. Es war meine Chance, als du alleine in eurem Zimmer warst. Trotzdem war das mit Louis' perfektem Timing ziemlich Glück. Dafür müsste ich ihm eigentlich danken, denn- oh, fuck.«

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Zayns Blick schien zu verschwimmen, er sah durch mich hindurch.

»Was-«, begann ich stutzig, aber dann begriff ich. Er sah nicht durch mich hindurch. Er sah auf etwas hinter mir. Sofort drehte ich mich um.

In der offenen Tür, mit runden Augen und geöffneten Lippen, stand Louis. Sein Blick zuckte zwischen mir und Zayn hin und her. Ich fühlte mich wie betäubt. Die Tränen hatten Louis' lange Wimpern dunkel gefärbt.

»Harry«, schlich mein Name über seine Lippen. So leise, dass ich mir nicht sicher war, ob Zayn es auch gehört hatte. Schock lag in Louis' Stimme, Schock und ein tiefes Bedauern. »Oh mein Gott, Harry.« Louis' Blick durchbohrte mich, ich war unfähig, meine gelähmte Zunge zu bewegen. Wie in Zeitlupe streckte Louis seine Hand aus, seine Finger streiften meine so zart, dass ich es für Einbildung halten könnte. Er blinzelte und ein paar Tränen rannen über seine Wange. »Harry« Seine Stimme zitterte, als er meinen Namen zum dritten Mal aussprach. »Du hast nicht gelogen.«

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[Notizen zur Story]

Charaktereigenschaften - Louis
• unrealistisch präzises Timing in Schlüsselmomenten:

One room • l.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt