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Louis

Harry versuchte es herunterzuspielen, aber ich sah, dass er den Rest des Tages über fast ein bisschen aufgeregt war. Er saß keine Sekunde still, beim Abendessen textete er mich mit zusammenhangslosem Zeug zu. Die Themen wechselten so schnell, dass ich irgendwann einfach nicht mehr versuchte mitzukommen.

Nach dem Essen hatte Harry alles im Zimmer aufgeräumt, was ihm gehörte. Ich hatte nur auf meinem Bett gesessen, ihn beobachtet und ihm jede einzelne Frage über meine alte Schule in London beantwortet, die ihm eingefallen war. Es war verrückt, Harry interessierte sich wahnsinnig für mein Leben vor dem Internat, er durchlöcherte mich zu den banalsten Themen. Es war, als wäre ich der erste Mensch, mit dem er je geredet hatte. Als hätte er dieses kleine Zimmer sein ganzes Leben noch nicht einmal verlassen. Aber mittlerweile versuchte ich mir nicht mal mehr alles über Harry zu erklären. Er war einfach nicht wie die anderen Menschen, die ich kannte. Und vielleicht war das etwas sehr Gutes.

»Fertig!«, riss Harry mich aus meinen Gedanken und stand strahlend in der Mitte des Raumes. Kurz sah ich mich im Zimmer um, es sah wirklich ordentlicher aus als vorher, auch wenn meine Sachen noch immer überall verstreut lagen. Aber zum ersten Mal waren Harrys zahllose Skizzenblöcke gestapelt, seine Bleistifte daneben aneinandergereiht und einen Haufen Schulzeugs hatte er im Schreibtisch verstaut.

»Sehr gut, Harry. Dann können wir ja jetzt runter, richtig?« Um die Antwort auf diese Frage gar nicht erst ihm zu überlassen – bevor ihm noch einfiel, dass er vielleicht noch die Fenster putzen könnte oder was auch immer Dämliches – ging ich zum Fenster und öffnete es weit. Sofort kam ein kalter Schwall Luft herein.

»Wir können lüften, wenn wir eh unten sind. Na los, raus hier.« Ohne auf irgendeine Reaktion von ihm zu warten, legte ich ihm eine Hand zwischen die Schulterblätter und schob ihn sanft, aber äußerst entschlossen aus der Tür. Glücklicherweise schien Harry aber auch der Meinung zu sein, dass wir jetzt unseren Film sehen könnten, also brauchte es meinerseits keine weitere Manipulation gegen Harrys natürlichen Drang, spontan seltsame Dinge zu machen.

Ich kümmerte mich um genügend Decken und Kissen, Harry sich um das Essen. Meine Aufgabe war die wesentlich schnellere und nachdem ich die zentral im Filmzimmer platzierte Couch mit diversen weichen Stoffobjekten überhäuft hatte, fiel mir dann auf, dass wir uns noch nicht mal einen Film überlegt hatten. Also ging ich zur hinteren Wand des Raumes, die ein einziges Regal mit Filmen war. Die Auswahl war riesig und als Harry mit einem Teller Haferkeksen, ungefähr einem halben Kilogramm Weintrauben und ein wenig Schokolade zurückkam, hatte ich mir schon etwa zwanzig Filme vorgemerkt.

Es stellte sich heraus, dass die Filmwahl letztendlich ein größeres Problem war als erwartet. Harry erklärte meine Vorschläge entweder für ›zu langweilig‹, ›zu gruselig‹ oder als ›zu viel Gewalt, keine richtige Handlung‹. Die meisten Filme einten wahrscheinlich alle drei nach seinem Urteil. Nur weigerte ich mich ebenfalls strikt, mit Harry Bambi, Frühstück bei Tiffany oder The Breakfast Club zu sehen, egal wie oft er mich dafür als herzlos bezeichnete. So zögerte sich das Ganze noch um fast eine Stunde heraus, bis wir uns endlich geeinigt hatten. Donnie Darko kannten und mochten wir beide, ein Klassiker, der weder zu stumpf für Harrys noch für meine Kriterien war.

Und so kam es, dass wir Haferkekse und Weintrauben in uns hineinstopften, während wir dabei zusahen, wie ein Mann im Hasenkostüm und ein augenscheinlich psychisch labiler Junge eine Stadt auf den Kopf stellen.

Harry

Ich konnte nicht sagen, wie oft ich schon hier gesessen hatte. Wie oft ich in einer Decke eingekuschelt die fantastischsten Handlungen auf dem Bildschirm verfolgt hatte. Aber niemals mit Louis.

Auf der Couch war mehr als genug Platz für uns beide. Und trotzdem saßen wir in der Mitte, unsere Körper berührten einander sanft unter der riesigen Decke, die wir uns teilten. Louis war angenehm warm und es fühlte sich einfach gut an.

Weil wir den Film erst spät gestartet hatten, wurde ich schnell müde. Ich konzentrierte mich aber darauf, wachzubleiben. Ich kniff mich selbst, zwang mich, den Film in meinem Kopf mitzusprechen (was nicht allzu schwer war, ich hatte ihn schon oft gesehen). Als diese eine, gewisse Szene kam, kniff ich die Augen so stark zusammen, dass es wehtat. Für einige Minuten saß ich so da, bis es vorbei war. Ich war mir ziemlich sicher, dass Louis es gar nicht bemerkt hatte. Zufrieden lehnte ich mich wieder entspannter zurück. Vielleicht war ich sogar ein wenig stolz, dass ich es geschafft hatte. Das musste ich unbedingt Niall erzählen.

Bald war die Müdigkeit wieder da. Ich nahm mir einen Haferkeks und knabberte daran, um mich wach zu halten, aber es wurde nicht einfacher.

»Hey Lou«, murmelte ich dann nach einer Weile leise und Louis drehte fragend den Kopf zu mir. Sein Blick lag sanft und unbewegt auf mir, er strahlte eine unglaubliche Ruhe aus. »Stört es dich, wenn ich..?«, ich sah seine Schulter an, um ihm klarzumachen, was ich meinte. Er schüttelte den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Film zu. Froh über die Erlaubnis ließ ich meinen Kopf langsam auf seine Schulter sinken und genoss den Geruch, der mich sanft in der Nase kitzelte. Louis hatte einen beinahe unbeschreiblichen Eigengeruch. Wie ein bevorstehendes Sommergewitter. Sternschnuppen. Unausgesprochene Worte auf süßen Lippen.

Es fiel mir schwer, mich weiter auf den Film zu konzentrieren. Stattdessen wandte ich meinen Kopf beinahe unmerklich nach oben und sah Louis an. Jetzt und hier hatte er keine blauen Augen mehr, keine blassrosa Lippen oder die lebhafte Sommerbräune, die in den letzten Wochen des Regens immer weiter verblasst war. Es war zu dunkel, um irgendeine Farbe zu sehen und trotzdem konnte ich noch jedes Detail seines Gesichts erkennen. Es war wie bei einer kunstvollen Fotografie. Manchmal ist Farbe einfach zu viel und der Fokus liegt ausschließlich auf der bloßen Schönheit des Objekts.

Louis war schön.

Ich beobachtete ihn lange nach dieser Erkenntnis, die eigentlich gar keine war. Ich hatte vorher gewusst, dass Louis gut aussah, aber jetzt kam es mir vor, als wäre das ein banaler menschlicher Ausdruck, der ihm nicht gerecht wurde. Als wäre er viel mehr von einem Engel, ein Kunstwerk, eine perfektionierte Komposition.
Die Geräusche des Films verschwammen in meinen Ohren. Die Bilder allerdings fand ich in Louis' Augen gespiegelt wieder. Mädchen in glitzernden Kostümen, Flugzeugtriebwerke und Wasser tanzten über sein Gesicht und tauchten es abwechselnd in Licht und Schatten, ließen seine ausgeprägten Wangenknochen scharf werden und wieder verschmelzen.

Und dann fiel mir etwas ein, was Niall gesagt hatte, nachdem Louis hergekommen war. Mein Leben war kein Märchen. Er hatte mir das vorher nie gesagt. Ich war immer davon überzeugt gewesen, dass mit meinem langersehnten Zimmermitbewohner mein Traumprinz in mein Leben treten würde. Dass ich ihn zum ersten Mal ansehen würde und Fanfaren ertönen und Blüten vom Himmel fallen würden, weil perfekt nicht mal annähernd ein Ausdruck für ihn wäre. Dass seine Augen leuchten würden, wie das eine Stück, das immer in meinem Leben gefehlt hatte. Ich war mir so sicher gewesen, dass mein Mitbewohner mein Traumprinz sein würde.

Aber spätestens nachdem Louis mich für meine Sexualität angeschrien hatte, wusste ich, dass nichts von alledem stimmte.

Dessen war ich mir nicht mehr ganz so sicher, als ich unbewusst in einen einnehmenden Schlaf glitt. Vielleicht war nicht alles meiner idealen Vorstellung Unwahrheit.

One room • l.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt