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Louis

Nachdem Harry an meiner Schulter eingeschlafen, noch bevor der Film zu Ende gewesen war, hatte ich nur einen winzigen Moment mit dem Gedanken gespielt, ihn zu wecken. Aber ein Blick auf die friedlichen, entspannten Gesichtszüge hatte gereicht, um mich sehr weit von dieser Option wegzuleiten.
Stattdessen hatte die Musik des Abspanns mich ebenfalls in den Schlaf gewiegt.

Ich will nicht übertreiben, schließlich habe ich die Nacht über geschlafen. Aber es hat sich gut angefühlt. Wie das unbeschreiblich gute Gefühl, das ich an dem Morgen hatte, an dem ich Harry aus meinem Bett geschubst hatte. Aber ich verbot meinem Gehirn, die ganz eindeutige Parallele zwischen diesen beiden Nächten zu ziehen. Denn der Schluss, den ich gezogen hätte, hätte die Dinge ganz sicher nicht einfacher gemacht.

Als ich dann am nächsten Morgen aufwachte, fielen mir schlagartig zwei Dinge auf. Dass es nicht regnete und ich mich wunderbar fühlte. Die dritte Erkenntnis brauchte etwa zwei Minuten des sinnlosen, lächelnden Sitzens auf der Couch mehr, als sie eigentlich hätte brauchen sollen. Harry war nicht da.

In der ersten Sekunde schossen mir wirre Szenarien von Entführungen und Mördern durch den Kopf. Dann wurde mir klar, dass Harry wahrscheinlich einfach nur schon vor mir aufgewacht und jetzt duschen war oder was auch immer. Die Teller mit dem Essen von gestern waren ebenfalls weg und ich konnte von hier sehen, dass der Film schon wieder weggeräumt wurde. Lächelnd schüttelte ich leicht den Kopf. Natürlich hatte Harry mir schon so viel Arbeit wie möglich abgenommen.

Langsam stand ich auf und streckte mich. Meine rechte Schulter schmerzte leicht, aber ansonsten war ich nur ein wenig schläfrig. Schnell – und nicht besonders ordentlich – räumte ich die Decken in das kleine Regal, aus dem ich sie geholt hatte.

Bevor ich hochging, sah ich erst noch in den Speisesaal, aber dort war Harry nicht. Auf dem Weg die Treppen hoch, nahm ich mir vor, dass ich so schnell nicht wieder in enger Skinnyjeans schlafen wollen würde. Meine Beine fühlten sich gequetscht an und ich spürte den Einschnitt des engen Bundes an meiner Hüfte.

Harry war auch nicht in unserem Zimmer. Ich schnappte mir nur schnell ein paar neue Sachen und ein Handtuch und ging in die Waschräume. Auch die weiß gefliesten Räume waren komplett verlassen. Langsam begann ich mich zu wundern, aber das verbannte ich einfach. Wahrscheinlich saß Harry unten in der Bibliothek und las. Diese Möglichkeit war so offensichtlich, dass ich beinahe über meine eigene Dummheit gelacht hätte. Beinahe erleichtert streifte ich die letzte Kleidung von meinem Körper und drehte das Wasser auf.

Harry war nicht in der Bibliothek. Dieser Idiot. Ich lief das komplette Internat ab, fand ihn aber nicht. Ich verfluchte ihn leise, als ich in meine Schuhe schlüpfte und nach draußen ging, um ihn dort zu suchen. Ich weiß, das hört sich jetzt alles ziemlich albern an, aber erstens hatte ich nichts anderes zu tun und zweitens wollte ich wissen, wo dieser verdammte Junge war.

An diesem Donnerstag lernte ich, wie riesig das Gelände war. Ich rief beinahe pausenlos Harrys Namen, während ich systematisch hin und her lief, damit wir uns ja nicht verpassen konnten. Ich war sogar ziemlich sicher, dass ich ihn so finden musste, wenn er hier war.

Ich fand ihn nicht. Stattdessen stieß ich auf einige andere Orte, an denen ich vorher noch nie gewesen war. Ein paar vereinzelte, geräteschuppenähnliche Gebäude, Wiesenflächen mit seltsamen Absteckungen und andere Dinge. Als ich beinahe an der Straße angekommen war, begann auf dem Gelände ein kleines Waldstück, durch das ein kleiner Bach plätscherte, der dann aber hinter dem Zaun weiterfloss. Ich fand sogar eine kleine Lichtung, bei der es eine selbst gebaute Astschaukel über den Bach gab. Von der Höhe her war sie vielleicht für einen Sechsjährigen ausgelegt und ich fragte mich, ob wohl irgendjemand an dieser Schule von diesem Ort wusste. Vielleicht wurde diese Schaukel vor fünfzig Jahren oder so von dem Kind eines Zaunrenovierers gebaut. Oder es gab hier Zwerge, die in den Bäumen lebten.
Ich rief zweimal laut Harrys Namen und drehte dann um, weil er hier ganz offensichtlich nicht war.

One room • l.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt