• 88 •

1.3K 170 142
                                    

Louis

Ich war zu sehr in meinem eigenen Kopf verloren gewesen, um mich an Liams Rückkehr zu erinnern. So wurde sie zu einer unerwarteten Überraschung. Liam selbst war überrascht, als er in der Tür unseres Zimmers stand und Harrys Bett unbezogen vorfand. Und mich ›wie eine Leiche, Gott, du siehst schrecklich aus‹. Vielleicht war es gut, dass ich die letzten beiden Tage jeden Blick in einen Spiegel vermieden hatte. Vielleicht war es auch schlecht.

Liams Ankunft war nicht schlecht. Ich hatte ihn in diesem ganzen Trubel ganz vergessen. Die eine Person, die auf meiner Seite stand. Es war unerwartet erleichternd, mit ihm zu reden. Liam war vielleicht derjenige von uns gewesen, der Zayn am meisten gemocht hatte. Deswegen, und Harrys nach außen hin unschuldiger Natur zu verschulden, war Liam doch ziemlich geschockt.

Es hatte sich einfach gut angefühlt, mit jemandem zu reden, der mich nicht für dämlich oder nicht vertrauenswürdig genug hielt. Ich wünschte, ich hätte weinen können. Liam hätte mir beigestanden, ohne so zu tun, als wäre mein Schmerz albern oder unbegründet. Das hatte er auch so getan. Aber ich wollte einfach nur noch weinen. Alles rauslassen. Aber ich konnte Tränen so wenig erzwingen wie ich Harrys Gefühle für Zayn ungeschehen machen konnte – so sehr ich das auch wollte.

Das Schlimmste daran, dass ich nicht weinen konnte, war, dass ich es kannte. Vor einem Jahr noch hätte ich so reagiert, immer. Meine Gefühle in mich hineingefressen. So wie ich es jetzt tat, ohne dass ich es wollte. Ich wollte weinen und schreien, Harry küssen und schubsen.

Ich musste mit Zayn reden. Er war womöglich die einzige Quelle, von der ich die Wahrheit erfahren konnte.

Ich war froh, ihn ohne Harry in seinem Zimmer zu finden. Er schien nicht schlecht zu staunen, als ich es war, der ohne zu klopfen in seiner Tür stand.

»Hi Louis« Mein französischer Name summte auf seiner Zunge, als er seine überraschte Miene in ein entspanntes Lächeln gleiten ließ. »Wozu bist du hier? Um mich umzubringen?«

Ich schloss die Tür hinter mir. Obwohl zwei freie Stühle im Raum waren, blieb ich stehen. Zayn saß mit ausgestreckten Beinen auf seinem Bett, einen geschlossenen Skizzenblock auf den Oberschenkeln ruhend.

»Ich dachte mir, dass du irgendwann kommen würdest.«, fuhr er fort, als hätte ich seine erste Frage beantwortet. »Aber noch hatte ich nicht mit dir gerechnet!«

»Alles, wofür ich hier bin, ist die Wahrheit.« Ich gab mir alle Mühe, durch Zayn hindurchzusehen. Seine Finger, die jetzt stetig über den Skizzenblock strichen, waren dieselben, die Harrys Taille an sich gezogen hatten, Gott weiß wie oft. Seine Hände, die taten, was meine getan hatten. Während meine es ebenso getan hatten. Von seinen Lippen wollte ich gar nicht erst anfangen.
Also bemühte ich mich, ihn so gut es ging anzusehen, ohne ihn anzusehen.

»Vorsichtig, Louis, bist du dir sicher? Ich weiß nicht, ob die Wahrheit im Moment gut für deine Gefühle ist.«

»Weil meine Gefühle in dieser ganzen Sache ja immer deine größte Priorität waren.« Ich musste mich nicht mal bemühen, den Sarkasmus in meiner Stimme zu zeigen. Zayn grinste.

»Ich ignoriere mal, dass du meine guten Absichten bezweifelst. Also, was willst du wissen?« Leise begann er, einen sanften Rhythmus auf den Block zu trommeln.

»Wann hat es begonnen?«, fragte ich mit zu versteiftem Kiefer.

Zayn lächelte ruhig. Er wusste so gut wie ich, dass das die wichtigste Frage war.
Er schürzte seine Lippen, als müsste er erst gründlich darüber nachdenken. »Vor einigen Wochen. Also mach dir keine Sorgen, Louis, nicht besonders lange.« Mit zuckersüßer Unschuld zwinkerte er mir zu. Vielleicht sollte ich ihm doch lieber den Hals umdrehen.

Einige Wochen. Falls irgendwo in meinem Körper noch ein winziger Teil darauf hatte hoffen können, dass Harry vielleicht doch die Wahrheit gesagt hatte, verschwand er jetzt. Einige Wochen waren wie ein Schlag ins Gesicht. In einigen Wochen war Harrys und meine Beziehung in ganz neue Ebenen gekommen. Allerdings war das zu Beginn gewesen, bevor ich Harry ohne es zu wissen mit einem Anderen geteilt hatte. Für einige Wochen.

»Wer hat es induziert? Wer hat den ers-«Ich biss mir auf die Zunge, bevor ich die zweite Frage beenden konnte. ›Wer hat den ersten Schritt gemacht?‹, hatte ich fragen wollen. Aber ich konnte ›ersten Schritt‹ nicht über die Lippen bringen. Erste Schritte klangen nach bevorstehenden Beziehungen. Darüber konnte ich bei Zayn und Harry nicht nachdenken.

Doch Zayn schien keine weitere Erklärung zu brauchen. Er hatte die Frage verstanden. Als hätte er Probleme, sich an die Antwort zu erinnern, neigte er seinen Kopf mit zusammengekniffenen Augen zur Seite. Ich konnte nur beten, dass sie nicht ›Harry‹ lautete. Auch wenn das sowieso nichts änderte. Aber die reine Vorstellung, dass Harry sich Zayn ganz von sich aus angenähert hatte, während die Wärme von meinen Lippen vielleicht noch auf seinen verweilt hatte, verkrampfte meine Organe. Dass Zayn sich so viel Zeit mit der Antwort ließ, half nicht.

Nach zu vielen Sekunden sah er mir in die Augen. Es war offensichtlich, dass er meinen Blick binden wollte. »Louis«, sagte er mit einer Tiefe, von der ich wusste, dass er sie nicht besaß, »Hältst du mich für jemanden, der Beziehungen Anderer zerstört?«

»Soll das ein Scherz sein?«

»Ich bin jemand, der Harry nicht einmal berührt hätte, wenn mir nicht eindeutig signalisiert worden wäre, dass er mich wollte.«

Ich schloss die Augen und zwang mich zu regelmäßigen Atemzügen. Wieder überschlugen sich Wut und Schmerz in meinem Inneren. »Also war es Harry, der dich geküsst hat.«, erkannte ich geschlagen, als ich wieder reden konnte.

Wieder neigte Zayn den Kopf zur Seite. »Naja. Ich würde sagen, es ging ebenbürtig von beiden Seiten aus.« Zayn lächelte nur sorglos beim Anblick meines Wut-starren Gesichts. »Du wirst es mir nicht übelnehmen können, Louis! Du kennst seine Blowjob-Lippen.«

Wieder musste ich dem Bedürfnis widerstehen, ihm alle Zähne auszuschlagen. Anstatt dieser Befriedigung, die keine sein würde, drehte ich mich zur Tür. Ich hatte genug gehört. Eigentlich hatte ich viel mehr fragen wollen, die komplette Wahrheit von vorne bis hinten erfahren, aber jetzt schien das keinen Sinn mehr zu machen. Was spielte es für eine Rolle, wie Harry über mich geredet hatte oder ob es jemals geplant gewesen war, das Geheimnis zu lüften?

Es gab nur eine einzige Sache, die ich noch wissen musste. Unweigerlich blieb ich stehen, bevor ich nach der Türklinke greifen konnte. Ohne Zayn anzusehen, stellte ich die Frage, die sonst niemals schweigen würde. »Hat er dir gesagt, dass er dich liebt?«

Dieses Mal konnte ich nicht sehen, ob er den Kopf neigte oder lächelte. Aber die vergehenden Sekunden flossen zäh wie Honig. »Du kennst die Antwort bereits, Louis.«

Meine Zähne fingen die Innenseite meiner Wange ein. Er hatte recht. Ich kannte die Antwort bereits. Wozu hätte mir Harry sonst ins Gesicht lügen müssen?

Ich hatte die Tür bereits geöffnet, als der Klang von Zayns Stimme mich für einen winzigen weiteren Augenblick zurückhielt. Seine Worte trieften vor blanker Ehrlichkeit.

»Weißt du, Louis, ich habe die ganze Zeit gedacht, du würdest die größte Bedrohung sein, wenn du von allem erfährst. Aber es ist lustig. Du kämpfst nicht mal um Harry.«

Ich schloss die Tür ohne mich umzudrehen.

One room • l.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt