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Harry

Der Wecker klingelte schrill und blechern mit den ersten Strahlen der Morgensonne. Den Blick an die Decke gerichtet, zuckte ich nicht einmal zusammen. Ich war bereits seit über einer Stunde wach gewesen. Schlaf hatte sich wie Louis in der letzten halben Woche von mir verabschiedet.

Mit einem leisen Stöhnen erstickte Niall seinen Wecker. Ich konnte es ihm nicht übelnehmen. Der erste Schultag nach den Ferien war nichts, an das man sich jemals gewöhnte.

Aber heute war wohl ich es zum ersten Mal, der den Unterricht von uns beiden am meisten verfluchte. Ich wollte nicht aufstehen, ich wollte nicht denken. Nicht mehr, als ich es schon die letzte Stunde lang getan hatte.

Meine eigenen Gedanken waren noch schlimmer als der Anblick von Louis' trüben Augen und versteiften Schultern, die ich in den letzten Tagen nur zu den Essenszeiten zu sehen bekommen hatte. Aber meine Gedanken hatten keinen fest beschränkten Auftritt, ich konnte ihnen nicht entfliehen. In Endlosschleifen suchte ich nach Worten, die Louis von der Wahrheit überzeugen konnten, und Wegen, mir wieder zu vertrauen.

Doch es war unmöglich, sie zu finden. Louis glaubte mit seinen eigenen Augen gesehen zu haben, dass ich ein Lügner war. Und wer glaubte einem Lügner, der behauptete, er wäre keiner? Richtig; niemand. Ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben, irgendwie auf einen Ausweg zu stoßen, aber es wurde mit jeder verstreichenden Minute schwieriger.

»Harry, bitte steh auf, sonst schlafe ich wieder ein.« Nialls raue Stimme kämpfte sich durch sein Kissen, das er auf dem Bauch liegend gegen sein Gesicht drückte. Ich sammelte für diesen winzigen Moment all meine Beherrschung und setzte mich auf. Mein Nacken schmerzte.

Niall hatte sich in den letzten Tagen sehr bemüht, sich ganz normal zu benehmen. Als wäre mir nicht das Herz gebrochen worden, weil Louis dachte, ich hätte meines an jemand anderes verloren. Ich wusste, dass Niall sich bewusst war, wie meine Chancen im Moment standen. Deswegen gab er sich alle Mühe, mich und die Welt so zu behandeln, als wäre nichts geschehen. Aber vorher hatte er mit Louis geredet – das wusste ich, auch wenn er es mir nicht erzählt hatte. Niall tat alles, um zu helfen, aber vertuschte es, um mich nicht der Auswegslosigkeit meiner Position auszusetzen. Als wäre ich mir ihrer nicht bewusster als alles andere im Moment.

Mit schwachen Armen schüttelte ich meine Decke auf. Das Geräusch war laut genug, dass Niall sich mit einem Seufzen aus seinem Bett rollte. »Morgen-Terror«, murmelte er und fuhr sich durch die vom Schlaf geplätteten blonden Haare.

»Du hast mich darum gebeten, Niall.«, erwiderte ich, weil ich wusste, dass er nicht wollte, dass ich schwieg. Ich hatte in dieser halben Woche zu viel geschwiegen. »Ich weiß nicht, wie du aus dem Bett kommst, wenn du alleine hier drin bist.«

»Keine Ahnung, kann ich dir auch nicht sagen. Ich denke inzwischen aber, ich sollte Louis nach ein paar Tipps fragen, wie man es mit dir in einem Zimmer für länger als vier Tage aushält.« Als wäre ein Schuss gefallen, trafen sich unsere geschockten Blicke in der Mitte des Raumes. Ich konnte förmlich sehen, wie Niall sich schuldbewusst auf die Zunge biss. »Tut mir leid, Harry«, sagte er schnell, aber ich schüttelte nur kraftlos den Kopf.

Ohne einen weiteren Blick auf mein Bett zu werfen, suchte ich mir mein Handtuch und frische Kleidung zusammen. Alleine machte ich mich auf den Weg in die Waschräume.

Nialls Zimmer würde mich noch verrückt machen. In einem Bett zu schlafen, das genauso aussah und genau dort stand wie mein Vorheriges, aber Louis' Bett nicht mit Louis darin, sondern Niall, fühlte sich mit jeder Minute mehr wie ein weiteres Zersplittern meines Lebens an. Es war falsch. Ich sollte abends in Louis' Armen liegen, nicht länger jungfräulich, mit meinen Lidern zu schwer von Glück und träger Müdigkeit, um sie zu öffnen. Stattdessen saß ich mit meinem besten Freund in dessen Zimmer und fühlte mich so leer und verlassen wie seit vielen Jahren nicht mehr.

One room • l.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt