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Louis

Natürlich. Die einzige Sache, auf die ich mich verlassen hatte. Verdammt. Ich hätte es wissen müssen. Eine Konferenz auf dem verfluchten Guernsey.

Ich drehte mich schnell wieder zu Harry um. Er war jetzt ebenfalls aufgestanden. Überfordert und verunsichert sprang der Blick seiner grünen Augen über mein Gesicht. Wieder formte er fragend meinen Namen mit seinen Lippen, dieses Mal ganz, ohne ein Geräusch zu machen. Ich überbrückte den Abstand zwischen uns und umfasste seine Unterarme.

»Es tut mir so leid, Harry.« Ich lehnte meine Stirn gegen seine.

Er blinzelte verloren. »Was ist los, Louis?«

Ich seufzte leise. Bevor ich antworten konnte, hob Harry alarmiert den Kopf. Jetzt hatte auch er die Geräusche an der Eingangstür gehört.

»Es sind meine Eltern.«

Überrascht öffnete er den Mund. Sein Blick legte sich auf die angelehnte Tür in meinem Rücken. Die vollen Lippen schienen mit ein paar Bewegungen Worte zu suchen, aber schließlich schloss er den Mund wieder.

»Ja, ich weiß.« Die Stimme meiner Mutter drang jetzt aus der Eingangshalle, aber ich fuhr weiter fort. »Es tut mir leid, Haz. Ich hab keine Ahnung, wieso sie hier sind. Ich würde uns wegbeamen, wenn ich könnte.«

Doch Harry schüttelte den Kopf, nachdem er seine Gedanken kurz gesammelt zu haben schien. Er sah flüchtig an sich hinab. »Lass uns Hallo sagen.«

Ich hätte gerne verneint und wäre aus dem Fenster geklettert, um dieser Situation zu entkommen, aber mir war bewusst, dass es keinen realistischen Umweg um diese Sache gab. Meine Eltern waren hier, Harry war hier. Auf in die Schlacht.

Ich drückte Harry einen Kuss auf den Mundwinkel. War es eine weitere Entschuldigung? Oder eine Ermutigung? Ich wusste es nicht. Ich wollte den Taxifahrer vor unserem Haus dafür bezahlen, dass er meine Eltern so weit wie nur irgendwie möglich wegfuhr – das war alles, was ich sagen konnte.

Doch auch das war nicht wirklich eine Option. Also atmete ich kurz durch. Harry hatte gestern Abend die beängstigende Panikattacke überstanden. Dann würden wir auch das hier überleben.

Ich zwang mich aufzusehen, als wir aus der Tür zum Esszimmer traten. Harry neben mir hatte die Hände vor seinem Körper gefaltet. Beide unsere Blicke lagen auf den Eindringlingen, die einige Meter entfernt von uns ihre Koffer ins Haus schafften.

Es war meine Mutter, die als erstes ihren Kopf hob und innehielt. Ich konnte sehen, wie sie die Augen zusammenkniff. Dann hellte ihr Gesicht sich auf.

»Louis!« Sie hatte die Halle schneller durchquert, als ich blinzeln konnte. »Du bist zuhause! Was für eine schöne Überraschung!« Ja, was für eine schöne Überraschung.

Mein Vater kam stirnrunzelnd neben meiner Mutter zum Stehen. »Miss Carter hat uns nicht über freie Tage informiert. Sag bloß nicht, es geht wieder mit den Streiks los. So viel wie wir für diese Schule bezahlen, müssten die Lehrer in Geld schwimmen.«

Ein hartnäckiges Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus. Ich wollte weglaufen. Meine Mutter warf meinem Vater einen flüchtigen, zurechtweisenden Blick zu. »Und du hast einen Mitschüler mitgebracht!«, fuhr sie mit neugierigem Blick auf Harry fort. Mein Magen drehte sich um. »Ich finde wirklich, sie sollten die Streiks vorher wenigstens ansagen. Aber ich kann mir schon denken, wer du bist. Der nette, irische Junge, den Miss Carter erwähnt hat! So spontan hat sich sicherlich kein Flug nach Irland finden lassen, hm? Ich bin sehr froh, dass du so besonnen warst und deinem Freund angeboten hast, mit herzukommen, Louis!«

»Mum.« In meinen Ohren pochte mein eigener Herzschlag. Ich holte Luft. »Er ist nicht nur ein Freund. Wir sind... Er ist mein fester Freund.« Ich betete, dass ich mich nicht anhörte, als wäre ich betrunken. Denn so fühlte ich mich. Ich nahm Harrys Hand und suchte in seinem Gesicht die Kontrolle, die sich mir so schnell entzogen hatte. »Möchtest du dich vorstellen?«

One room • l.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt