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Louis

Es war nicht so, als würden wir uns ignorieren. Das taten wir nicht. Wir sprachen miteinander, es war fast normal. Nur dass wir einfach so taten, als wäre Sonntag niemals passiert.
Ehrlich gesagt redete ich mir auch ein, dass ja eigentlich nichts passiert war, richtig? Es ist nichts geschehen, wir haben uns gegenüber gesessen und einander angesehen. Nicht weiter wild. Also brauchte ich mir auch über nichts weiter Gedanken machen.

Aber so war es nicht. Ich machte mir Gedanken, denn nichts von dem hätte auch nur ansatzweise überhaupt im Raum stehen dürfen. Niall war seitdem mein Retter, mein Held. Denn wäre er nicht gewesen...darüber durfte ich nicht nachdenken.

Küssen. Ich hatte schon so viele Menschen geküsst, ihre Anzahl könnte ich nicht nennen. Ich mochte Küsse – auch wenn sie nicht mit Sex mithalten konnten. Aber Küsse waren definitiv auch gut. Hart und zügellos, leidenschaftlich. Zunge. Ich war nicht so der Typ für sanft und gefühlvoll – ganz zum Leid einiger meiner Exfreundinnen, deren Versuche zu zärtlichen Küssen ich immer schnell abzuwimmeln wusste.

Eine von ihnen hatte, nachdem ich erklärt hatte, dass ich nicht auf solche Küsse stand, mit einem zwinkernden Lächeln darauf angespielt, dass ich nur noch nicht die richtige Küsserin gefunden hatte – eine mehr als dezente Anspielung auf ihre eigenen Lippen. Ich hatte ihr die Chance sogar gelassen, allerdings war ich nicht mal ansatzweise überzeugt worden. Danach war ich mir sicher gewesen, dass es nicht stimmte, dass ich den richtigen einfühlsamen, gefühlvollen Kuss einfach noch nicht bekommen hatte, sondern es ganz einfach eine Geschmacksache war.

Und leider war ich mir da seit Sonntag nicht mehr so sicher. Denn wie es mich zu Harry hingezogen hatte, wäre das ganz sicher kein harter, zügelloser Kuss gewesen. Was, wenn bisher wirklich einfach noch niemand fähig gewesen war, mich richtig zu küssen?
Wenn ich das als Option abwog, dann schob sich ohne Zögern ein ganz bestimmtes Gesicht viel zu selbstverständlich in meine Gedanken. Und das war das Problem. Ich mochte Küsse, ja. Aber ich hatte Mädchen geküsst, jedes einzelne Mal waren es die Lippen einer Person des anderen Geschlechts gewesen. Ich durfte nicht darüber nachdenken, ob Sonntag irgendetwas daran änderte. Ob diese komplette, verfluchte Ferienwoche etwas änderte.
Ich durfte nicht darüber nachdenken, ob Harrys perfekte Lippen etwas daran änderten.

Die zahllosen, scheinbar willkürlichen Zahlen und Buchstaben hatten schon längst angefangen, vor meinen Augen zu verschwimmen. Ausgelaugt fuhren meine Hände durch meine zerzausten Haare, die meinen Fingern der mutlosen Verzweiflung heute schon viel zu oft standhalten mussten. Die ursprüngliche Frisur hatte langsam und immer klarer ihrem Tod entgegen sehen müssen. Schon lange konnte man nicht mal mehr erahnen, wie mein Haar hatte aussehen sollen. Ich seufzte leise.

Ohne dramatisch wirken zu wollen; Ich könnte heulen. Wenn Harrys Wecker stimmte, dann saß ich jetzt seit genau drei Stunden hier vor den Schulaufzeichnungen, die kein Ende zu nehmen schienen.

Ich hatte heute durch Zufall (und dank Liam) erfahren, dass wir am Freitag so ungefähr den umfangreichsten Geschichtstest überhaupt schreiben würden. Nicht nötig, an dieser Stelle weiter auszuführen, wieso ich selbst nicht davon wusste.
Aber darum ging es nicht mal. Freitag, das war in zwei Tagen. Ich hatte genau zwei Nachmittage, um ungefähr dreitausend Jahre der britischen Geschichte in meinen Kopf zu brennen.

Mittlerweile hatte ich sogar das Gefühl, dass ich weniger wusste, als vorher. Ich konnte nicht mehr sagen, ob Stonehenge oder das London Eye zuerst gebaut wurde, geschweige denn eine Jahreszahl zuordnen. Keine Chance.

Als ich wieder auf eines der Blätter vor mir sah, war ich nicht weit davon entfernt, es einfach zu zerreißen. Mir war es egal, wer die Anglonormannen waren. Wieso musste ich sowas wissen? Mich wollte außerdem das beschleichende Gefühl nicht verlassen, dass ich solche Tests in London niemals hätte schreiben müssen. Wahrscheinlich hatte Liam Recht gehabt. Wenn man an dieser Schule abschloss, stand einem die gesamte Welt offen. Das war auch kein Wunder, wenn man zu dem Zeitpunkt unausgenommen alles Wissen auf diesem Planeten gelernt hat. Ich war mir nicht wirklich sicher, ob ich das auch wollte.

One room • l.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt