Kapitel 22

3.3K 269 14
                                    


Als ich noch ein Kind war, hatte mir meine Mutter erzählt, dass die Götter für alles einen Grund hatten.
Weil sie ja so viel weiser, so viel besser waren als wir.
Doch am heutigen Tage dachte ich mir, dass die Götter abscheulich waren, genauso makelbehaftet wie all die Wesen, die sie erschaffen hatten.
Selbst die reine Vida und ihre Schwester, die barmherzige Lynette, waren doch nur dreckige Monster.
Zumindest kam es mir so vor, als Madeline und ich nach einem atemlosen Sprint durch den Wald bei der Leiche ankamen.
Oh ja, daran, dass es eine Leiche war, bestand kein Zweifel.
Ebenso wenig bei der Frage nach dem Mörder.
Die grauenvollen Reißwunden, die versengten schwarzen Fellbüschel und der widerwärtige Gestank ließen keinen Zweifel an einem Schattenangriff.
Der Schattenprinz in mir jubilierte und ich hätte mich am liebsten übergeben.
Ich erlaubte mir nicht, auch nur zu denken, was unausgesprochen in der Luft hing wie eine Glasscherbe, nach der keiner die Hand ausstrecken wollte, um sich nicht daran zu schneiden.
Madeline war bleich wie Käse und Ace, der bereits hier gewesen war, als wir hergekommen waren und offenbar die Leiche gefunden hatte, schnappte nach Luft und schien kurz vor dem Kollibieren.
Hinter uns hörte ich eilige Schritte und ich meinte, Dantes Stimme zu hören.
Oh Gott.
Oh nein, das würde ihn zerstören.
Ich wollte etwas tun, doch jeder Muskel in meinem Körper war wie gelähmt.
Madeline stieß ein heiseres Krächzen aus, dann machte sie einen Schritt zurück und starrte mit riesigen Augen den Neuankömmlingen entgegen.
Ich schluchzte hilflos auf.
Das war kein böser Traum so viel stand fest.
Es war eher ein fieser Streich der Götter, ein komplett sinnbefreiter Akt, der nur Schmerzen bereitete.
"Dante ...", brachte Madeline heraus.
Doch es war zu spät, der Flammenprinz stand schon neben ihr. Den Ausdruck auf seinem Gesicht in diesem Moment würde ich nie vergessen.
Das war pure, ungefilterte Pein, allumfassende Qual, bodenlose Trauer.
"Liliane!", entfuhr es dem Prinzen.
Es war ein verzweifelter Schrei, der mein Innerstes widerspiegelte.
Ace drehte uns den Rücken zu und ich hörte Würggeräusche, während Dante von allen Kräften verlassen in sich zusammensank und von Madeline fest in den Armen gehalten wurde.
Die Drachenflüsterin hielt den Feuerfinger sicher, strich ihm über das dunkelbraune Haar und murmelte ihm Dinge zu, die ich nicht verstand.
Alles, was ich sah, waren die von Kummer verdunkelten Augen des Prinzen und der zerfleischte, leblose Körper der Feuerbändigerin, die ich als eine Freundin bezeichnen würde.
Lilianes schwarzes Haar war wild vom mutmaßlichen Kampf zerzaust, das Blut tränkte ihre Kleidung und der Blick war leer.
Ich sank auf die Knie.
Im Gegensatz zu Dante fing mich niemand auf.
Mein Mund öffnete sich in einem stummen Schrei und ich stierte wie gefesselt auf die Feuerbändigerin.
Die freundliche, starke, wundervolle Feuerbändigerin, die mir diese Hölle erträglicher gemacht hatte.
Eine großartige, disziplinierte Person; die Einzige hier, die mich niemals von oben herab behandelt hatte.
Mein Körper zitterte und ich musste daran denken, wie mein Vater vor Jahren auf eine ähnliche Art und Weise ums Leben gekommen war. Dieser neue Verlust fühlte sich fast genauso schlimm an.
Es war verblüffend, wie nah mir Lilianes Tod ging - Sie war doch kein Mensch. Aber dennoch war da echter Schmerz in meinem Herzen, einer, den der Schatten gierig aufsaugte und sich an ihm labte.
Die Tränen nahmen mir bald die Sicht, aber ich hörte, dass weitere Leute ankamen und ein Aufruhr ausbrach.
Doch das war egal, meine Welt war mal wieder aus den Fugen geraten.
Noch eine Katastrophe, noch eine Tote, noch mehr Schatten.

Es war mitten in der Nacht.
Obwohl ich die Decke bis hoch zu den Ohren gezogen hatte, war mir eiskalt. Ich presste meine zitternden Hände gegen die Brust, in der mein Herz wie ein wildes Pferd galoppierte.
Warum war es so verdammt kalt?
Das Fenster hatte ich geschlossen und die Decke auf mir war dick und hielt mich doch normalerweise warm.
Wie ein Embryo kauerte ich mich zusammen, doch auch das half nichts.
Ich lag hilf- und schutzlos im Dunklen und wünschte mir nichts mehr als ein bisschen Wärme.
Konnte Mutter mich nicht wieder in den Arm nehmen?
Konnte ich mich nicht wieder an Lucas kuscheln wie früher in den kalten Winternächten?
Konnte ich mir nicht wieder Vaters schweren Mantel borgen, unter dem ich fast verschwand?
Nein. Natürlich nicht.
Ich sollte hier weg, weg von den Feuerbändigern, um einen Weg zu finden, den Schatten aus mir zu verteiben.
Doch ich konnte mich nicht bewegen.
Wie ein Eisklotz.
Und ehlich gesagt wollte ich mich nicht bewegen.
Ich wollte schlafen, Wärme verspüren und dann in die Bewusstlosigkeit abgleiten - nicht mehr an Lilianes totes Gesicht, ihre toten Augen, denken.
Irgendwann zu später Stunde vernahm ich ein leises Geräusch.
Jemand kam in mein Zimmer, wurde mir klar, als ich die langsamen Schritte hörte, die sich mir und dem Bett näherten.
Still und reglos blieb ich legen, drehte noch nicht einmal den Kopf.
Ich hielt den Atem an, nicht mal ein winziger Muskel zuckte.
Dann sank die Matratze ein, als sich die Person in meinem Zimmer neben mich legte.
Ich fühlte eine harte, aber warme Männerbrust an meinem Rücken und presste die Augen zusammen.
Ein Arm legte sich um meine Mitte und der fremde Atem, der mein Ohr streifte, ließ mich erschaudern.
Ich sollte wegrücken, aufspringen, schreien, um mich schlagen.
Doch ich tat es nicht.
Die Wärme des Oberkörpers an meinem Rücken war zu angenehm und ich konnte mich nicht dazu überwinden, abzurücken.
Ein kräftiges Herz schlug gegen meinen Rücken und der fremde Brustkorb hob und senkte sich in einem beruhigend gleichmäßigen Takt.
Die Ruhe, die ausgestrahlt wurde, färbte auf mich ab; beruhigte mein Herz und lullte mich ein.
Es war nicht wie bei Drake - Da war kein bittersüßer, schwarzer Strudel, sondern nur eine wunderbare Hitze, die meinen Körper wärmer hielt, als jeder Kamin es je könnte.
Und ohne, dass ich genauer darüber nachdachte, schmiegte ich mich enger an die Person, die da bei mir lag.
Es fühlte sich so verflucht gut an und in diesem Moment war mir egal, was ich tun und sagen sollte; ich ließ alles bloß geschehen.
Und das war das erste wahrlich Gute, das mir in den letzten Wochen zugestoßen war.



Blazing - Feuriges BandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt