Kapitel 34

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"Wer hätte gedacht, dass die kleine Rowinth sich noch einmal hier blicken lässt!"
Die alte Frau sich kaum verändert, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
Ihre wachen Augen nahmen jedes Detail an mir wahr und die Fältchen um ihre Augen und ihre Mundwinkel hatten sich vertieft, doch das tiefsinnige Lächeln war unverwechselbar.
Ihre langen, flinken Finger schlossen sich warm um meine Schultern und sie betrachtete mich von oben bis unten.
"Stockfrau" hatten wir Kinder die Frau mit der aufrechten Statur genannt, die abseits von Fost in einem kalten Steinhaus wohnte.
Jetzt, nach dem Angriff der Feuerfinger, war ihr Haus das einzige, das noch stand.
Ich durchkramte mein Gedächtnis nach dem richtigen Namen der alten Frau, kam aber nicht darauf.
"Komm doch herein, Mädchen, ich hatte so lange keinen Besuch mehr.", bot die Stockfrau mir an.
Mit schmerzenden Füßen voller Blasen aufgrund des langen, aufreibenden Weges ging ich an ihr vorbei ins Innere des Steinhauses.
Das dämmrige Licht ließ nur einen gewissen Eindruck der Einrichtung zu, aber ich erkannte bunte Teppiche auf dem Boden und an den Wänden sowie einen Haufen Kissen und Decken im gesamten Raum, der sich vor mir erstreckte.
Keine Stühle oder Tische, und ich kam zu dem Schluss, dass die Stockfrau noch immer auf dem Boden saß, aß und trank, so wie sie es schon vor Jahren getan hatte.
Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, ließ ich mich auf einem sich in meiner Nähe befindeten Kissen nieder und meine Beine knackten vor Erleichterung über die dringend nötige Entlastung.
Langsam streckte ich mich und bewegte die überlasteten Gelenke und massierte die verhärteten Muskeln in meinen Unterschenkeln.
"Wie geht es deinem Bruder?", erkundigte die Stockfrau sich.
Ich zuckte zusammen.
"Er ist ..." Ich schluckte schwer. "Er ist tot. Höchstwahrscheinlich."
Die Schuld verschlang mich und ich schaffte es nicht, der alten Frau in die Augen zu sehen, aus Angst, was sie in meinen entdecken könnte.
"Er war ein lieber Junge. Ein süßer Junge.", hörte ich die Frau murmeln, derweil sie sich ohne Kissen mir gegenüber auf den kalten Steinboden setzte.
Ich brachte keinen Ton heraus.
"Aber wegen ihm bist du nicht hier.", erkannte die geistreiche Alte; "Du bist hier wegen der Dunkelheit in deiner Seele."
Verblüfft hob ich den Kopf und begegnete dem prüfenden Blick der Stockfrau.
"Aber da ist noch etwas anderes.", sagte sie, die für das Lesen von Auren und für normale Menschen nicht wahrnehmbare Schwingungen bekannt war; "Ein Brandmal. Mitten in deinem Herzen. Feuer und Tod."
"Eine Prägung", krächzte ich mit rauem Hals, ungläubig, dass sie das tatsächlich bemerkt hatte.
Die Stockfrau nickte und ihre langen dünnen Finger tippten unruhig auf dem Boden vor ihren knochigen Knien herum.
"Dunkelheit und Tod", grummelte die Frau; "Eine unglückliche Mischung. Ein unglückliches Mädchen."
Mir war etwas unbehaglich zumute unter ihren klaren, direkten Augen.
Ich räusperte mich.
"Ich bin hier", setzte ich zu einer Erklärung an; "weil ich deinen Rat brauche. Um den Schatten loszuwerden."
Die Alte runzelte die ohnehin schon runzlige Stirn.
"Der Schatten hängt fest an deiner Seele. Hat sich quasi darin verbissen.", erklärte sie; "Du hast ihn durch das Blut aufgenommen, nicht wahr? Im Blut liegt die Macht."
"So wie du es mir gesagt hast.", bestätigte ich.
Nach kurzem Zögern fügte ich hinzu: "Und es ist sogar ein Prinz, ein Schattenprinz."
Besorgnis und düstere Gedanken zeichneten nun den Gesichtsausdruck der Stockfrau, deren schlanke Finger immer schneller auf den Steinboden trommelten.
Dann, urplötzlich, hörte sie damit auf und verschränkte die Hände ruhig auf ihrem Schoß.
Auch ihre Sorgenfalten hatten sich geglättet und sie machte ein fast friedliches Gesicht, was ich nicht zu interpretieren wusste.
"Erzähl mir doch, wo du dich in letzter Zeit herum getrieben hast.", bat die Stockfrau.
Verwundert starrte ich sie an und brauchte einen Moment, bevor ich mich wieder gefangen hatte.
"Ähm, natürlich", willigte ich leicht verwirrt ein; "Du hast vielleicht mitbekommen, dass der Rat in Fost mich zum Tode verurteilt hatte. Dass ich noch hier bin, ist den Feuerfingern zu verdanken. Die haben mich nämlich befreit und für ihre Armee im Kampf gegen die Schatten angeworben. Ich meine, was hatte ich für eine Wahl? Wohin hätte ich gehen können? Beim Training hat mich dann ein Feuerfinger in Brand gesteckt und mir somit diese Prägung verpasst, was auch immer das jetzt zu bedeuten hat. Danach sind noch einige verrückte Sachen passiert und vor kurzem habe ich herausgefunden, dass meine Mutter noch am Leben ist und mich umbringen möchte."
Mit einem resignierten Seufzer schloss ich die Kurzfassung der letzten paar Wochen.
Mein Gegenüber brauchte ja nichts von diesen seltsamen Gefühlen für Gladion und dem ganzen Drama um Madeline und Drake zu erfahren.
"Was seltsam ist", fügte ich noch leiser hinzu; "Ist, dass manche von ihnen gar nicht mal so schlimm sind. Eine Feuerbändigerin war sogar irgendwie meine Freundin - und dann ist sie gestorben."
Und auch Dante und Ace würde ich als meine Freunde bezeichnen, fiel mir auf.
Ein Kloß der Bekümmerung bildete sich in meinem Hals.
"Ich möchte nur noch, dass es aufhört.", gab ich zu; "Verstehst du ... ?"
"Hana", sagte die alte Frau lächelnd.
"Verstehst du, Hana?", seufzte ich; "Ich möchte mich von diesem ekelhaften Biest befreien. Es ist so anstrengend, dagegen anzukämpfen. Ich weiß nicht, wie lange ich noch stark genug dafür bin."
Ihre langgliedrige Hand legte sich mitfühlend auf meine und ich sah Hana ihr Mitleid an.
Ich wollte nicht bemitleidet werden, doch wenn es das war, das sie dazu antreiben würde, mir zu helfen, würde ich es dulden, dass sie mich wie ein verletztes Tier anschaute.
"Es tut mir unendlich leid, dass du in dieser Situation bist", beteuerte die alte Frau mir sanft; "Du bist noch so jung, in deinem Alter sollte niemand derart gezeichnet sein."
Erwartungsvoll neigte ich mich ihr leicht entgegen.
"Doch ich fürchte, dass ich dir in diesem Kampf nicht helfen kann.", sagte Hana mit Bedauern; "Du musst den Willen und die Kraft haben, stärker zu sein. Nur du kannst dich retten."
In mir tobten ambivalente Gefühle - Zum einen wollte ich sie anschreien, einen Ausraster bekommen und alles kurz und klein schlagen (angespornt vom Schatten in mir), und zum anderen wollte ich mich zusammenrollen und schlafen, nur um nie wieder aufzuwachen.
Wut, Enttäuschung und Trauer spielten in mir verrückt, doch ich beherrschte mich wie ein vernunftbegabtes Wesen.
Hana hatte mich damals nicht dazu gezwungen, das Blut des Schattenprinzens zu trinken - das war meine Entscheidung, mein Fehler, gewesen.
"Allerdings", erhob die runzlige Frau erneut die Stimme; "Gibt es eine Möglichkeit, den Schatten zu schwächen."
Sofort ruckte mein Kopf wieder hoch und mein Blick traf den scharfsinnigen Blick der Stockfrau.
"Drachenblut", sprach sie es aus; "Das Trinken von Drachenblut kann dir helfen."

Blazing - Feuriges BandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt