Kapitel 45

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Für mein Gehirn war es schwer, zu begreifen, was hier vor sich ging.
Wieso war gerade sie hier, um meinen Tod zu verhindern?
Was interessierte sie mein Überleben denn im Geringsten?
Madeline verzog den Mund zu einem skurrilen Grinsen, welches ich nur mit einem perplexen Starren erwidern konnte.
Meine unverhoffte Retterin zog ein kurzes Messer aus ihrem Gürtel und warf es mir von dem dunkelorangenem Reittier, auf dem sie thronte, zu mir herunter.
In all dem Lärm und Durcheinander hörte ich das Klirren nicht, mit dem das Messer auf dem Boden auftraf, doch ich hechtete, so schnell es mir in den Fesseln möglich war, vor und kniete mich hin, um mit den aneinander gefesselten Händen das Messer aufheben zu können.
Innerhalb kurzer Zeit hatte ich mich somit von den Fesseln befreit, all die Stricke und Leinen unachtsam zerfetzt und schubste eine Frau zur Seite, die mich im hastigen Zurückstolpern angerempelt hatte.
Mit dem Messer in der Hand bahnte ich mir mit groben Stößen den Weg zu dem weniger als einen Meter in der Luft schwebenden Drachenweibchen, das jeden Menschen, der ihr zu Nahe kam, drohend aus grellgrünen Augen musterte und ihre gewaltigen Zähne zur Schau stellte.
Nach ein paar großen Schritten war ich nah genug und konnte Madelines ausgestreckte Hand ergreifen.
Mit einer erstaunlichen Kraft, die ich der Drachenflüsterin nicht zugetraut hätte, schwang sie mich hinter sich auf den Rücken des schuppigen Drachentiers.
Ich schnappte überrascht nach Luft und hielt mich instinktiv an Madeline fest, um nicht wieder von dem großen, feuerspeienden Ungetüm zu gleiten.
Madeline tätschelte vollkommen ruhig den Hals des Schuppentiers, was offenbar das Zeichen zum Abflug war, da der Drache nun seine Flügel heftiger zu bewegen begann und uns somit weiter in die Höhe beförderte.
Atemlos klammerte ich mich an Madelines Schultern fest und duckte mich schräg unter ihrem mir ins Gesicht flatternden braunem Haar weg.
Kräftige Flügelschläge brachten uns immer weiter in Richtung Himmel und fort von dem Lager, das unter uns völlig in Aufruhr versetzt war und bald nur noch wie eine Horde wild gewordener Ameisen wirkte.
Tausende Fragen schwirrten mit durch den Kopf und auch meine Gefühle spielten verrückt.
Von Verwirrtheit, über Schock, Misstrauen und Wut zogen alle möglichen Emotionen mir den Magen zusammen.
Doch während der Flugwind so an meiner Kleidung mit den getrockneten Blutflecken zerrte und mein wirres Haar nach hinten wehte, überwog die Erleichterung.
Ich stieß ein schräges, kleines Lachen aus und atmete tief die frische Luft ein.
Madeline, an der ich mich noch immer festhielt, drehte sich kurz zu mir um und warf einen Blick aus ihren kühlen Augen auf mich, dann wandte die Drachenflüsterin sich wieder nach vorne.
Ich meinte, sie auch kurz lachen zu hören.
Es war einfach zu lächerlich, was hier vor sich ging.
Wir zwei hassten uns doch - ich hatte einen ihrer geliebten Drachen umgebracht, wir hatten beide etwas mit Gladion gehabt und sie hatte von Anfang an nur auf mir herumgehackt.
Insgesamt war viel zu viel passiert und es war doch ein einziger Witz, dass ich trotz allem, was ich erlebt hatte, noch hier war.
Am Leben, sicher auf dem Rücken eines mächtigen Drachens.
Nun ja, es sei denn Madeline wollte mich direkt zur nächsten Hinrichtung schleifen.
Wobei, wieso sollte sie mich retten, nur um mich direkt danach selbst umzulegen? Das ergab keinen Sinn.
Wobei, nichts ergab gerade einen Sinn.
Ich war die letzte Überlebende meiner Familie, eine Waise. Wieso war gerade ich die Letzte?
Weil dir etwas Größeres bestimmt ist. Hundert Jahre in unserem Reich der Schatten., meldete sich der Schattenprinz in mir wieder zu Wort.
Ich ignorierte ihn.
Noch war ich ein Mensch, noch war ich ich.
Oder zumindest das, was von mir übrig war.

Vielleicht waren es Stunden, vielleicht nur Minuten, vielleicht auch ein ganzer Tag, als wir wieder am Boden aufsetzten.
Meine Beine waren ein wenig wund und dort, wo ich im Lager der Menschen bewusstlos geschlagen worden war, hatte ich eine Beule am Hinterkopf.
Ich rutschte ungelenkt vom Rücken des rotorangenen Drachens und beinahe knickten meine Beine unter mir weg.
Die Erschöpfung saß mir in den Gliedern und war sicher offensichtlich.
Zudem roch ich nach Blut, Schweiß und Dreck, was auch so ziemlich das war, mit dem meine Klamotten von oben bis unten bedeckt waren.
Ziemlich spät bemerkte ich, dass wir bei den Drachengruben gelandet waren und Madeline ihren mit Schuppen gepanzerten Liebling in eine der tiefen Felsgruben manövrierte und leise mit dem Drachen sprach.
Danach kam sie zu mir, mit festen Schritten, die darauf schließen ließen, dass sie nicht halb so mitgenommen war wie ich.
Ihre Locken waren zwar zerzaust, hatten aber einen frischen Glanz, ihre Wangen waren gerötet und das Blitzen in ihren Augen lebendig.
Madeline schmunzelte.
"Scheiße siehst du aus.", merkte sie an, als ob ich mir das nicht denken könnte.
"Reizend wie immer", brummte ich und betastete vorsichtig meine schmerzende Beule am Hinterkopf.
Madeline grinste unbekümmert, doch das gewohnt arrogante Glitzern in ihrem Blick fehlte.
"Du musst zugeben, dass ich schon mehr als reizend war, als ich dich da aus diesem Drecksloch geholt und dein Leben gerettet habe.", meinte sie.
"Wie ein Engel am Himmel", gab ich sarkastisch zurück.
Für eine Sekunde blickten wir uns nur schweigend in die Augen.
Es verblüffte mich zutiefst, welche Aufrichtigkeit und Klarheit ich in ihren erkannte.
"Warum hast du es getan?", stellte ich dann die Frage, die zwischen uns stand und soeben unser gesamtes Verhältnis zueinander verändert hatte.
"Weißt du", sagte Madeline und runzelte die helle Stirn; "Wenn wir uns nicht so sehr bekämpft hätten, hätten wir alle immer fertig gemacht. Stell dir mal die Gesichter dieser Idioten vor, wenn ihnen der Hintern von zwei Mädchen versolt würde."
"Dieser Idioten?", wiederholte ich; "Du meinst Gladion und Drake?"
"Ganz genau", bestätigte die Drachenflüsterin; "Und falls du dich das jetzt fragst: Ja, mit Gladion bin ich fertig. Ich weiß, dass ihr Sex hattet. Er hat mich einfach hintergangen und dann hat er auch dich hintergangen und an Kiano verraten. Nein danke, so einen brauch ich nicht."
Wir lächelten gleichzeitig.
Madeline erinnerte mich auf einmal an Jenna, die Wasserbändigerin, die ich zuerst gehasst und mich in der Gefangenschaft verbündet hatte.
Die ich geschworen hatte, zu befreien.
Warum waren bloß meine ehemaligen Feinde nun meine einzigen Verbündeten?
Stopp, ermahnte ich mich. Ich wusste nicht sicher, ob Madeline wirklich auf meiner Seite war.
"Du hast mich sicher nicht gerettet und damit Kianos Abkommen mit den Menschen gebrochen, nur weil du plötzlich ein bisschen Sympathie für mich empfindest", stellte ich fest; "Also, hat es dir jemand befohlen?"
Prüfend glitten Madelines graue Augen über mein Gesicht.
Vermutlich waren getrocknetes Blut, blasse Lippen und blutunterlaufene Augen das Einzige, was sie sah.
Die Feuerbändigerin nickte schließlich und bejahte die Frage.
"In der Tat: Kiano", erläuterte sie; "Er hat mir keine konkreten Gründe genannt, nur, dass sich seine Pläne geändert haben. Also habe ich mich bereit erklärt und mich gegen Drake durchgesetzt, der auch mitkommen wollte. Ich dachte, wir zwei könnten ja nochmal von vorne anfangen ohne all das, was in der Vergangenheit schief gelaufen ist."
Es lief mir kalt den Rücken hinunter.
Kiano benötigte mich für seinen neuen Plan.
Das konnte nur eines bedeuten: Ich würde wieder als Kriegswerkzeug missbraucht werden.
"Danke", sagte ich geistig nicht ganz anwesend; "Für die Rettung"
Madeline nickte.
Ich fuhr mir übers Gesicht.
Dunkles Blut klebte an meiner Hand und ich starrte gedankenversunken darauf.
Noch mehr Blut, noch mehr Tod.
Wie sollte ich da irgendwie den Schatten unter Kontrolle halten?
Aber was hatte ich für eine Wahl?
Verzweifelt begegnete ich wieder Madelines Blick.
"Es tut mir übrigens leid", brachte ich heraus; "Dass ich deinen Drachen umgebracht habe. Wirklich."
Ich erwartete eine wütende Reaktion, doch Madeline nickte nur nochmal und trat einen Schritt vor, um mir die Hand auf die Schulter zu legen.
Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt und die Drachenflüsterin war vollkommen ernst.
"Lass dich nur nicht nochmal von dem Schatten unterkriegen.", riet sie mir und nahm dann ihre Hand von meiner Schulter, um an mir vorbei zu gehen.
Ich atmete tief ein und aus, während Madelines Schritte sich hinter mir in Richtung des Trainingslagers der Feuerfinger entfernten.
Dorthin musste ich auch gehen und vermutlich mit Kiano reden.
Beim Gedanken an das, was der Kronprinz von mir verlangen würde, spürte ich einen Kloß im Hals.
Ich lauschte noch dem Zischen und Fauchen der Drachen in den Gruben und beobachtete, wie ab und an eine Rauchwolke aufstieg.
Erst, als ich glaubte, mir würden jeden Moment die Augen zufallen, machte ich mich auf den Weg zum Trainingslager.
Meine Schritte waren schwer und die Beine drohten, jeden Schritt unter mir nachzugeben.
Zum Glück war das Trainigslager nicht allzu weit von den Drachengruben entfernt, auch wenn es mir heute wie eine Tageswanderung vorkam.
Beim Vorbeikommen an dem Gefangenentrakt, wo ich zuletzt untergebracht gewesen war, vernahm ich Stimmen.
Ich hätte wahrscheinlich einfach vorbeigehen und bei Kiano aufkreuzen sollen, um danach endlich meinen benötigten Schlaf zu bekommen, doch irgendwie war ich neugierig und wollte mir auch einen Eindruck von Jennas Zustand verschaffen.
Also betrat ich den komischerweise unbewachten Eingang des Trakts, in dem die Gefangenen in grauen, tristen Zellen untergebracht wurden.
Die Stimmen waren inzwischen verstummt und als ich den Kopf zögerlich in den Gang hineinstreckte, in dem die Zellen in Reih und Glied eingebaut waren, wurde mir auch sofort klar, wieso.
Meine Augen sahen es, aber mein Kopf tat sich schwer, das Bild vor mir zu verarbeiten.
Da waren Jenna und Drake im Gang vor der offenen Zelle der Wasserbändigerin.
Und sie küssten sich.


Blazing - Feuriges BandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt